Baustein 7: Intervention
Die Definition von Verantwortlichkeiten und Verfahrensabläufen beim Einschreiten in sexualisierte Gewaltdynamiken ist ein unerlässlicher Bestandteil innerhalb des Rechte- und Schutzkonzeptes. Die Momente, in denen Verantwortliche Anhaltspunkte auf sexualisierte Gewalt erhalten, sind häufig geprägt von starken Emotionen wie Unsicherheit und Angst. Der Handlungsdruck ist mitunter enorm und erzeugt zusätzlichen Stress. Damit intervenierender Schutz vor sexualisierter Gewalt gelingen kann, sind daher strukturierte und konkrete Verfahrensschritte erforderlich. Klar und transparent definierte Abläufe erzeugen bei den Verantwortlichen Handlungssicherheit.
Werden die Verantwortlichen mit einem Anfangsverdacht auf sexualisierte Gewaltdynamiken konfrontiert, muss zunächst eine Einschätzung der Gesamtsituation/Abklärung einer Vermutung erfolgen. Erst danach werden konkrete Interventionsschritte eingeleitet. Die Einschätzung erfolgt unter dem „4- bis 6-Augen-Prinzip“, unter Hinzunahme der Leitungsebene und der fachlichen Expertise einer spezialisierten Fachberatungsstelle. Für das weitere Verfahren ist es unerlässlich, den Schritt der Verdachtsabklärung zu dokumentieren.
Zum Risikomanagement bei Kindeswohlgefährdung und zu Gelingensfaktoren bei der Wahrnehmung des Schutzauftrages finden Sie u. a. hier ab S. 8 und hier ab S. 18 weitere Informationen.
Erhärtet sich eine Vermutung auf sexualisierte Gewaltdynamiken, werden Eingriffe in dieselben notwendig. Die obersten Leitprinzipien sind dabei die Herstellung des Schutzes der Betroffenen sowie die Wahrung des Kindeswohls. Daran orientiert, leiten sich einzelne Interventionsschritte ab, die jedoch stets fallabhängig und daher höchst individuell sind.
Der Moment einer Intervention ist sehr sensibel. Damit die Handlungsfähigkeit in dieser Ausnahmesituation sichergestellt ist, gelten folgende Grundsätze:
- Bedacht handeln! Zwar handelt es sich um eine Stresssituation, ein unüberlegtes und überstürztes Handeln muss jedoch vermieden werden.
- Niemand schaut weg! Der Prozess muss jedoch unabhängig von eigenen Zweifeln und Unsicherheiten darauf ausgelegt sein, dass Anhaltspunkte grundsätzlich ernstgenommen und konsequent bearbeitet werden.
- Verantwortung übernehmen! Intervention ist keine Aufgabe, die von einer Einzelperson übernommen wird. Bei der Interventionsplanung ist es notwendig, alle handelnden Personen gemäß ihrer Rolle und Funktion innerhalb der Institution miteinzubeziehen.
Für ein Rechte- und Schutzkonzept müssen daher verbindliche Verfahrensstandards im Umgang mit Vermutungen und für die Einleitung von Intervention entwickelt werden. So wirkt die Organisation einerseits „blindem Aktionismus“ und Überreaktionen entgegen und etabliert andererseits ein transparentes und faires Verfahren. Als konkreter Konzeptbaustein bietet sich ein Interventionsleitfaden an.
Der Interventionsleitfaden
Damit Mitarbeitende und ehrenamtlich Tätige in Ihrer Organisation wissen, was im Falle einer (vermuteten) Gefährdung eines jungen Menschen zu tun ist, braucht die Organisation einen Plan, in dem konkrete Handlungsschritte chronologisch festgelegt sind: vom Abklären der Vermutung bis hin zur Einleitung von tatsächlichen Interventionen. Im Interventionsleitfaden sind daher möglichst detailliert und übersichtlich alle Verfahrensschritte dargestellt, wie Verdachtsmomente abgeklärt werden und welche Interventionen im Krisenfall einzuleiten sind.
Ebenfalls benennt der Interventionsleitfaden alle Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten. Jede involvierte Person muss wissen, was ihre Rolle und Funktion im Interventionsprozess ist. Jede Organisation und Einrichtung sollte daher auch einen individuellen Interventionsleitfaden haben, der die institutionellen Eigen- und Besonderheiten berücksichtigt.
Für die Einleitung von Intervention ist es grundsätzlich empfehlenswert, zwischen drei unterschiedlichen Fallkonstellationen zu differenzieren. Im Folgenden sind unter jeder Fallkonstellation mögliche Schritte benannt, die bei einer Intervention mitgedacht und daher im Interventionsleitfaden berücksichtigt werden.
1. Erhärtete/begründete Vermutung auf sexualisierte Gewalt ausgehend von ehren- und hauptamtlichen Mitarbeitenden innerhalb der Organisation
- Ein Interventionsteam wird gebildet.
- Der Schutz von Betroffenen wird umgehend sichergestellt, die Personen unter Vermutung erhalten keine weiteren Kontaktmöglichkeiten (auch digitale Möglichkeiten mitdenken).
- Trägerinterne Meldesysteme werden eingehalten.
- Die Fürsorgepflicht besteht gegenüber der*dem potentiellen Täter*in weiterhin. Der Datenschutz wird gewahrt. Arbeitsrechtliche Schritte werden geprüft.
- Gegebenenfalls werden Meldepflichten gegenüber Jugendämtern oder Aufsichtsbehörden eingehalten.
- Die Einschaltung von Strafverfolgungsbehörden wird geprüft. Jedoch sollten Anzeigen bei der Polizei keinesfalls vorschnell getätigt werden, sondern immer unter Abwägung des Betroffenenwohls erfolgen.
- Interne und externe Sprachregelungen werden gefunden und kommuniziert. Gegebenenfalls werden Presseerklärungsbausteine entwickelt.
- Alle eingeleiteten Maßnahmen werden dokumentiert.
Zur Meldepflicht nach §47 SGB VIII finden Sie hier weitere Informationen.
2. Sexualisierte Übergriffe und Gewalthandlungen durch Kinder und Jugendliche innerhalb der Institution
- Der Schutz der Betroffenen wird sichergestellt. Die Übergriffs- und Gewaltdynamiken werden durch die Verantwortlichen unterbunden.
- Mit den Betroffenen und Übergriffigen werden jeweils getrennt voneinander Bedarfe erörtert.
- Die übergriffigen Kinder/Jugendlichen erhalten (ohne Einbezug Betroffener) Gelegenheit, sich zur Situation zu äußern. Die pädagogischen Fachkräfte positionieren sich hierbei eindeutig gegen sexualisierte Übergriffe und Gewalt.
- Eine gemeinsame Einschätzung im Team wird, unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Betroffenen, vorgenommen.
- Konsequenzen werden nicht von den Eltern, sondern vom Team erarbeitet und eingeleitet.
- Die Informationen werden trägerintern weiterkommuniziert.
- Gegebenenfalls werden Sorgeverantwortliche und Eltern informiert.
Einen ausführlicheren Interventionsplan finden Sie in der u. g. Arbeitshilfe des Paritätischen Jugendwerks und des ISA auf S. 24f.
3. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche, die außerhalb der Institution ausgeübt wird
- Das trägerinterne Verfahren nach § 8a SGB VIII; 4 KKG wird eingeleitet.
Sowohl zur Abschätzung des Gefährdungsrisikos für die betroffenen Kinder und Jugendlichen als auch bei der Vorbereitung und Planung der Intervention ist eine gemeinsame Einschätzung aus fachlicher Sicht hilfreich. Es empfiehlt sich daher, eine spezialisierte Fachberatungsstelle (siehe psg.nrw/hilfe-finden/#Beratung) hinzuzunehmen, damit fachliche Expertise von außen im Interventionsprozess gesichert ist. Wichtig ist im intervenierenden Kinder- und Jugendschutz eine ausreichende (interdisziplinäre) Vernetzung, die nicht nur fallbezogen aktiviert, sondern kontinuierlich gepflegt wird.
Für Schutzkonzepte ist es empfehlenswert, ein Schaubild oder Ablaufschema zu entwickeln. Die Darstellung eines Flussdiagrammes bietet sich dafür an. Wir haben dies > hier beispielhaft für Fallkonstellation 1 dargestellt.
Hinweis: Bitte bedenken Sie, dass es sich bei Interventionen in sexualisierte Gewaltdynamiken um komplexe und sensible Situationen handelt. Die Einleitung von Interventionsmaßnahmen bedarf einer guten Planung und genauen Abwägung, die an dieser Stelle nur stark verkürzt dargestellt werden konnte. In diesem Baustein haben wir vor allem fachliche Aspekte der Intervention vor dem Hintergrund der Implementierung in die Rechte- und Schutzkonzepte im Allgemeinen behandelt. Für Interventionsleitfäden, die Sie im Rahmen Ihrer einrichtungsbezogenen Schutzprozesse erarbeiten, empfehlen wir weiterführende Literatur zu nutzen. Untenstehend finden Sie Literaturtipps zu diesem Baustein.
Exkurs: Sexuelle Übergriffe durch Kinder und Jugendliche
Sexuelle Übergriffe durch Gleichaltrige können überall stattfinden: z. B. im Freundeskreis, in Partnerschaften, in der Schule, im digitalen Raum und auch in Einrichtungen und Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe.
Voraussetzung für eine Einschätzung und passende pädagogische Intervention seitens der Mitarbeitenden ist die Unterscheidung in „altersangemessene sexuelle Aktivität“ und „sexueller Übergriff“.
Um sexuelle Verhaltensweisen unter Gleichaltrigen einordnen zu können, müssen immer der Kontext, die Interaktionsdynamik und der Entwicklungsstand junger Menschen berücksichtigt werden. Zentrale Kriterien, die auf sexuelle Übergriffe hindeuten, sind Unfreiwilligkeit, Zwang und das Ausnutzen eines ungleichen Machtverhältnisses. Ein ungleiches Machtverhältnis kann unter anderem aufgrund von Altersunterschieden, körperlicher Kraft, Abhängigkeiten, kognitiver Entwicklung oder sozialem Status entstehen.
Sexualisierte Übergriffe durch Gleichaltrige können auch im digitalen Raum stattfinden, wie z. B. nicht-einvernehmliches Verbreiten sexuell expliziter Bilder oder Videos.
Weil das Erleben und Kennenlernen der eigenen Sexualität und das Austesten von Grenzen in der Phase des Heranwachsens zur Bewältigung von Entwicklungsaufgaben dazugehören kann, ist es für Jugendliche nicht immer einfach, die Grenzen klar zu kennen und dann auch zu kommunizieren. Die emotionalen Befindlichkeiten aller Beteiligten müssen im Blick behalten werden – die des*der betroffenen Kindes/Jugendlichen an erster Stelle, aber auch die des*der übergriffigen Kindes/Jugendlichen und der beteiligten Peers. Um handlungsfähig zu bleiben, sind ein sexualpädagogisches Konzept und die Verankerung des Themas sexuelle Bildung im Schutzkonzept hilfreich (siehe Baustein 6: Sexuelle Bildung).
Literatur- und Materialempfehlungen
Allroggen, Marc: Sexuelle Übergriffe unter Kindern und Jugendlichen. In: Fegert Jörg M. u.a.: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch. Heidelberg 2015.
Amyna e.V. (Hrsg.): „War doch nur Spaß…?“ Sexuelle Übergriffe durch Jugendliche verhindern. München 2014.
Bange, Dirk: Planung der Intervention nach Aufdeckung eines sexuellen Kindesmissbrauchsfalls. In: Fegert, Jörg M. u.a.: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch. Heidelberg 2015.
Enders, Ursula: Umgang mit Vermutung und Verdacht bei sexuellem Kindesmissbrauch. In: Fegert, Jörg M. u.a.: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch. Heidelberg 2015.
Evangelische Kirche im Rheinland (Hrsg.): Schutzkonzepte Praktisch 2021. Ein Handlungsleitfaden zur Erstellung von Schutzkonzepten in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen zur Prävention sexualisierter Gewalt. Düsseldorf 2021.
Landesstelle Jugendschutz Niedersachen (Hrsg.): Grenzgebiete – Sexuelle Übergriffe unter Jugendlichen. Eine Arbeitshilfe. Hannover 2017.
Paritätisches Jugendwerk NRW (Hrsg.) und ISA (Institut für soziale Arbeit e.V., inhaltliche Ausarbeitung): Schutzkonzepte für die Kinder- und Jugendarbeit. Arbeitshilfe. Wuppertal 2021.
Winter, Veronika & Wolff, Mechthild: Interventionen. In: Fegert, Jörg u.a.: Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen. Heidelberg 2018.