Baustein 6: Sexuelle Bildung

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Schutz. Dieser Schutz darf aber nicht ihr Bedürfnis nach – z.B. sexuellen – Erfahrungsräumen überlagern: Die Prävention von sexualisierter Gewalt bedeutet nicht die Prävention von Sexualität. In den Präventionsbemühungen geht es darum, die positive Kraft der Sexualität zu nutzen, um Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenskompetenz zu stärken. In diesem Sinne ist sexuelle Bildung ein Baustein von Prävention sexualisierter Gewalt und fester Bestandteil eines Schutzkonzeptes.

Kindlicher Sexualität gerecht werden

Der Mensch ist ein sexuelles Wesen, von Anfang an. Darum ist das Vorurteil auch nicht zutreffend, dass sexuelle Bildung eine „Frühreife“ nach sich ziehen kann. Sexualität ist ein Lebensthema; die sexuelle Entwicklung läuft nicht einfach als biologisches Programm ab, sondern findet im Prozess in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen statt. Dafür braucht es Schutz- und Erfahrungsräume, die ein Rechte- und Schutzkonzept gewährleisten muss.

Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen kindlicher Sexualität und erwachsener Sexualität: So kann es zwar ähnliche körperliche Reaktionen geben, wie z.B. schöne Gefühle bei Kindern, wenn sie etwa auf einem Kissen herumrutschen. Kinder schreiben den Erlebnissen aber eine völlig andere Bedeutung zu als Erwachsene, sie haben eine ganz andere Wahrnehmung von dem, was da gerade passiert. Es ist also entscheidend, nicht die eigene erwachsene Sicht auf das kindliche Verhalten zu übertragen (etwa, wenn Kinder Körpererkundungsspiele, sogenannte Doktorspiele spielen). Das ist nicht immer leicht, und auch deshalb ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, mit eigenen Werten, Normen und Erfahrungen so wichtig. Kindliche Sexualität ist spontan, neugierig, spielerisch; es geht um Geborgenheit und Kuscheln und das Körpererleben mit allen Sinnen. Sie kann im selbstbezogenen Spielen, durch Erkundungs- und Rollenspiele ausgelebt und erprobt werden; das eigene Handeln wird nicht bewusst als sexuell wahrgenommen. Dieses Thema können Sie im hier verlinken Interview „Nur wer Bescheid weiß, kann auch Bescheid sagen“ aus dem AJS Forum 3/21 vertiefen.

Kinderrechte vereinbaren

Der Schutz vor sexualisierter Gewalt muss Hand in Hand gehen mit der Gewährleistung weiterer Kinderrechte, nämlich dem auf Befähigung, Partizipation und Information und im Jugendalter auch dem selbstbestimmten, grenzachtenden Leben der eigenen Sexualität. All dies gemeinsam ist entscheidend, damit das Kindeswohl gewährleistet werden kann.

Kinder und Jugendliche brauchen eine altersangemessene, sexualfreundliche Begleitung, die sie in ihren Erfahrungen im Umgang mit Bedürfnissen, Körperlichkeit, Beziehungen, geschlechtlicher Identität und Vielfalt wahrnimmt und ernst nimmt. Diese Erfahrungen sind sexuelle Lernfelder: Sie schaffen ein bestimmtes Körper- und Lebensgefühl und fördern die Beziehungs- und Liebesfähigkeit, die in der Sexualität Voraussetzung ist, um die eigenen Grenzen und die der anderen wahrzunehmen und einzuhalten.

So geht es beispielsweise auch um die Verbesserung der Sprachfähigkeit zu sexuellen Themen, denn nur wer Worte zur Verfügung hat, kann Wünsche und auch Grenzen kommunizieren.

Kinder und Jugendliche müssen, ihrem Entwicklungsstand angemessen, über Sexualität und auch sexualisierte Gewalt aufgeklärt werden – dies ist ein essenzieller Bestandteil der Prävention: Denn nur wer Bescheid weiß, kann auch Bescheid sagen.

Im Übrigen haben Menschen explizite sexuelle Rechte, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) universell gültig sind und sich aus den universellen Menschenrechten ableiten. Dazu gehören viele der oben genannten Aspekte.

Sexualpädagogisches Konzept

Ein sexualpädagogisches Konzept kann mit Ihrem Rechte- und Schutzkonzept Hand in Hand gehen und den Aspekt der sexuellen Bildung in Ihrer Organisation verankern. Dieses kann …

  • Sexualität als etwas grundsätzlich Positives, als menschliche Eigenschaft und Ressource beschreiben,
  • die sexuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen anerkennen und Lust als positive Lebensenergie beschreiben,
  • sexuelle Rechte anerkennen und Selbstbestimmung ermöglichen,
  • sexuelle und geschlechtliche Identität thematisieren und Diskriminierung verhindern,
  • die Bedingungen klären, unter denen es Erlaubnis- und Erfahrungsräume in der Einrichtung gibt,
  • eine Kultur des Sprechens über Körper und Sexualität etablieren; Sexual- und Körperaufklärung gewährleisten.

Vgl. auch Martin Gnielka, isp, www.gnielka.de

Literatur- und Materialempfehlungen

Bodmer, Nancy M.: Psychologie der Jugendsexualität: Theorie, Fakten und Interventionen. Hogrefe: Göttingen 2013.

BZgA (Hrsg.): Liebevoll begleiten … Körperwahrnehmung und körperliche Neugier kleiner Kinder. Ein Ratgeber für Eltern zur kindlichen Entwicklung vom 1. bis zum 6. Lebensjahr. Köln 2017.

Krüger, Michael, AJS Bayern (Hrsg.): Kinderschutz: Sexualerziehung in der Kita – Grundlagen, Konzept, Prävention. Don Bosco: München 2021.

Linke, Thorsten e.a.: Sexuelle Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe: Die Bedeutung von Vertrauenskonzepten Jugendlicher für das Sprechen über Sexualität in pädagogischen Kontexten. Psychosozial-Verlag: Gießen 2020.

Martin / Nitschke: Sexuelle Bildung in der Schule: Themenorientierte Einführung und Methoden (Brennpunkt Schule). W. Kohlhammer: Stuttgart 2017.

Maywald, Jörg: Sexualpädagogik in der Kita. Kinder schützen, stärken, begleiten.  Herder: Freiburg/Basel/Wien 2018.

Der Paritätische NRW (Hrsg.): Zärtlich, sinnlich, schön – kindliche Sexualität. Fünf Schritte zum sexualpädagogischen Konzept in Kindertageseinrichtungen – eine Arbeitshilfe. Wuppertal 2019. Die Broschüre gibt es zum kostenlosen Download.

Weidinger, Bettina: Sexualität im Beratungsgespräch mit Jugendlichen. Springer: Berlin 2007.

WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten. Köln 2011. 

World Association for Sexual Health: Declaration of Sexual Rights. Minneapolis 2014.