Überall da, wo Menschen miteinander in Beziehung treten, können Grenzverletzungen bzw. Formen sexualisierter Gewalt durch Erwachsene wie auch Kinder und Jugendliche vorkommen. Es ist entscheidend, damit bewusst, transparent und reflektiert umzugehen, um solche Fälle zu minimieren oder zu verhindern. Der folgende Text behandelt das Thema der sexualisierten Gewalt an Mädchen* und Jungen* durch Erwachsene ebenso wie die damit zusammenhängenden Fragen: Wer sind die Täter*innen sexualisierter Gewalt, und welche Gefährdungsrisiken gibt es für Mädchen* und Jungen*?
A. Grenzverletzungen sind Verhaltensweisen, die die persönlichen Grenzen anderer Personen, ihre Gefühle und ihr Schamempfinden überschreiten. In der Regel sind sie unbeabsichtigt. Jeder Mensch hat das Recht zu bestimmen, wie viel Nähe er zwischen sich und anderen zulassen möchte. Grenzen können sich verändern, wenn sich Beziehungen zwischen Menschen wandeln. Die Faktoren für eine Grenzverletzung sind nicht immer objektiv zu fassen, sie hängen mit dem subjektiven Erleben jedes Einzelnen zusammen.
B. Sexualisierte Übergriffe unterscheiden sich von unbeabsichtigten Grenzverletzungen durch die Massivität und/oder Häufigkeit. Sie geschehen im Gegensatz zu Grenzverletzungen fast nie zufällig, sondern resultieren aus fachlichen und persönlichen Defiziten heraus. Sie können Kindern und Jugendlichen sowohl körperlich als auch psychisch schaden.
C. Strafrechtlich relevante Formen sexualisierter Gewalt: Darunter werden sexuelle Nötigung, exhibitionistische Handlungen, Vergewaltigungen, sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen und Schutzbefohlenen sowie das Ausstellen, die Herstellung, der Handel und der Eigenbesitz kinderpornografischer Produkte verstanden. Diese werden im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches unter den „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ benannt (gem. §§ 174 ff. StGB).
Sexualisierte Gewalt ist ein Phänomen, das einer klaren Sprache bedarf, um es greif- und damit bearbeitbar zu machen. Dies beginnt mit dem Begriff selbst, der sich aus der Fachwelt heraus als Alternative zum strafrechtlich derzeit noch gebräuchlichen Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ entwickelt hat. Im Unterschied zum Missbrauchsbegriff markiert „sexualisierte Gewalt“ den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen, die nicht wie Objekte sexuell miss- und damit indirekt auch legitim gebraucht werden können. Diese Perspektive entzieht Täter*innen eine Rechtfertigungsstrategie für ihre Taten und weist deutlich deren Verantwortung als Gewaltausübende aus. Im Gegensatz zum Begriff „sexueller Missbrauch“ beschreibt der Terminus „sexualisierte Gewalt“ den Machtmissbrauch, der im Fokus steht, und distanziert sich dadurch von der gesellschaftlich immer noch weit verbreiteten Annahme, es handele sich meist um unkontrollierbare (männliche) sexuelle Triebe.
Inhaltlich ist als sexualisierte Gewalt „jede sexuelle Handlung [zu verstehen], die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann“ (Deegener 2010, S. 22).
Viele Grenzüberschreitungen finden im Arbeitsalltag unabsichtlich statt und sind unter der Rubrik „unprofessionelles Verhalten“ einzusortieren. Sexualisierte Gewalt hingegen wird nie spontan oder „aus Versehen“ verübt, sondern ist immer von langer Hand geplant!
Die Täter sind zu ca. 85-90% männlich. Expert*innen gehen davon aus, dass der Anteil von Frauen bei ca. 10-15% liegt. Dabei werden Taten in erster Linie von Menschen begangen, die keine bzw. keine ausschließliche sexuelle Präferenz für Kinder bzw. Pubertierende haben. Schätzungen zufolge kommen 50-75% aus dem nahen sozialen Umfeld der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Häufig finden sich Täter*innen in der eigenen Familie wieder. Sexualisierte Gewalt findet auch in Einrichtungen statt, in denen wir Mädchen* und Jungen* scheinbar wohl aufgehoben fühlen.
Aufgrund der hohen Dunkelziffer sind verbindliche Aussagen über Häufigkeiten nicht möglich. Die Ergebnisse von Studien zur sexualisierten Gewalt an Kindern und Jugendlichen variieren nach der Definition von sexualisierter Gewalt, dem Studiendesign, der Stichprobe und auch der Informationsquelle. Für Fachkräfte sind diese Fakten letztlich nicht entscheidend. Wichtig ist die Tatsache, dass sie im Arbeitsalltag immer wieder Mädchen* und Jungen* begegnen werden, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind. Deswegen ist es erforderlich, sich mit der Thematik fachlich auseinanderzusetzen und eine professionelle Haltung zum Thema Nähe-Distanz zu entwickeln.
Analog zum Mythos, dass ausschließlich Männer sexualisierte Gewalt ausüben, erweist sich auch die Vorstellung als unzutreffend, dass primär Mädchen* von dieser Gewaltform betroffen sind – vielmehr stellt sich das Geschlechterverhältnis der Betroffenen ausgeglichener dar als auf Seiten von Täter*innen. Betroffen sind zudem Jungen* und Mädchen* jeden Alters und Aussehens und jeder sozialen Schicht, denn nicht zuletzt hängt die Wahl der Betroffenen maßgeblich von den individuellen Präferenzen und Gelegenheitsstrukturen der Täter*innen ab. Ein erhöhtes Risiko besteht für Kinder und Jugendliche mit physischen, psychischen und kognitiven Einschränkungen oder ausgeprägten sozialen und emotionalen Bedürftigkeiten, die Täter*innen gezielt ausnutzen können. Rechtfertigungen, die Kindern und Jugendlichen eine (Teil-)Schuld an ihren Gewalterfahrungen zusprechen (z. B. im Bild der „Lolita“), sind vor dem Hintergrund des Entwicklungs- und Machtgefälles klar zurückzuweisen: Erwachsene sind für ihr Handeln verantwortlich – und damit auch für von ihnen ausgeübte sexualisierte Gewalt.
Quellen:
Deegener, Günther: Kindesmissbrauch. Erkennen – helfen – vorbeugen. 5. komplett überarb. Aufl., Weinheim & Basel 2010
Vgl. Enders, Ursula/Kossatz, Yücel: Grenzverletzung, sexueller Übergriff oder sexueller Missbrauch? In: Enders, Ursula: Grenzen achten: Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Ein Handbuch für die Praxis. 1. Aufl., Köln 2012, S. 30-53
Grenzverletzungen und sexualisierte Gewalt durch Kinder und Jugendliche
Auch Kinder und Jugendliche können sexualisierte Gewalt aneinander verüben. Wann sexualisierte Handlungen hier als unzulässig zu betrachten sind und was in dieser Hinsicht zu beachten ist, lesen Sie in der Folge.
Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt werden nicht nur durch Erwachsene an Kindern und Jugendlichen verübt, sondern auch durch andere Kinder und Jugendliche. Diese Konstellationen sind in den letzten Jahren insbesondere in Verbindung mit den Kontexten Schule und (soziale) Medien verstärkt in den Fokus von wissenschaftlicher und pädagogischer Praxis gerückt. Sie sind jedoch überall dort ein potenzielles Thema, wo Kinder und Jugendliche einander analog oder digital begegnen. Gerade im digitalen Raum ist es dabei nicht zwangsläufig der Fall, dass Kinder und Jugendliche in sozialen Beziehungen zueinander stehen – auch aus diesem Grund erweist sich der gängige Begriff der „Peer-Gewalt“ als nicht hinreichend präzise.
Wann sind sexualisierte Kontakte unzulässig?
Sexualisierte Kontakte von Erwachsenen mit Kindern bzw. Jugendlichen lassen sich aufgrund der immanenten Alters-, Macht-bzw. Entwicklungsdifferenz – auch vor dem Hintergrund der zusammenhängenden Rechtslage – eindeutig als unzulässig klassifizieren. Die Beurteilung vergleichbarer Kontakte durch Kinder und Jugendliche in Abhängigkeit von den Alters- bzw. Entwicklungsphasen und sozialen Beziehungen der Beteiligten stellt sich dagegen komplexer dar. So steht etwa kindlichem Explorationsverhalten in Form von Körpererkundungsspielen („Doktorspielen“) und Ähnlichem ebenso wenig entgegen wie einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen Jugendlichen. Grenzüberschreitend werden diese und andere Praktiken dann, wenn sie gegen den Willen vollzogen werden oder beteiligte Kinder bzw. Jugendliche aufgrund von Alters- bzw. Entwicklungs- oder Machtgefällen nicht im Stande sind, frei und im Bewusstsein um das Geschehen einzuwilligen. Dabei können die Übergänge zwischen einvernehmlichen Handlungen zur Überschreitung von Grenzen fließend sein. Beispiele für Grenzüberschreitungen sind etwa sexualisierte Beleidigungen, das unerwünschte Zeigen oder Berühren von Geschlechtsteilen, das Aufzwingen von Küssen, das Erzwingen oder ungefragte Weiterleiten intimer bzw. pornographischer Bilder und Videos. Beratungsstellen können vor diesem Hintergrund Fachkräfte bei der Beurteilung von Situationen unterstützen.
Ab wann Grenzüberschreitungen als sexualisierte Gewalt gekennzeichnet werden müssen, hängt ab von:
Stigmatisierungen vorbeugen
Grundsätzlich hat sich in Fachkreisen im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen außerhalb des strafrechtlichen Kontexts die Rede von „grenzüberschreitenden/übergriffigen“ und „betroffenen“ Kindern bzw. Jugendlichen etabliert. Diese beugt durch den Verzicht auf die Label „Täter*in“ und „Opfer“ damit verbundenen Stigmatisierungen vor und schafft gleichzeitig Raum dafür, auch grenzüberschreitende bzw. gewaltausübende Kinder bzw. Jugendliche trotz Anerkennung der Folgen für Betroffene als hilfebedürftig zu begreifen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass – entgegen des verbreiteten Glaubens – die Ausübung sexualisierter Gewalt nicht zwangsläufig auf eigene Gewalterfahrungen hindeutet.
Pädagogisches Handeln gefragt
Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt durch Kinder und Jugendliche stellen grundsätzlich einen pädagogischen Handlungsanlass dar, der durch Fachkräfte und/oder Eltern zeitnah und zielgerichtet adressiert werden sollte. Die Maßgabe besteht darin, dass betroffene Kinder und Jugendliche bei der Bearbeitung ihrer Erfahrungen (professionell) unterstützt und grenzüberschreitende Kinder und Jugendliche zur Einsicht und Verhaltensänderung befähigt werden. Sexualpädagogische Ansätze helfen auch präventiv dabei, den Umgang mit eigenen und fremden Grenzen zu erlernen. Zudem stellen positive Bindungen zu Gleichaltrigen eine wichtige Ressource da, die es unter anderem Betroffenen erleichtert, sich mit ihren Gewalterfahrungen anzuvertrauen („Disclosure“), ehe diese ggf. mit Erwachsenen geteilt werden.
Sexualisierte Gewalt im digitalen Raum
Digitale Medien sind aus dem Leben von Kindern und Jugendlichen nicht mehr wegzudenken. Sie bringen viele Möglichkeiten und Chancen mit sich. Mit Blick auf den Themenkomplex sexualisierter Gewalt bergen sie aber auch Risiken. Prävention muss darum immer auch aktuelle digitale Lebenswelten mitdenken.
Digitale Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen
Ein wachsender Teil von Kindern besitzt heute bereits im Grundschulalter ein eigenes Smartphone.1 Junge Menschen wachsen in einer digitalisierten Welt auf, in der Online- und Offline-Welt miteinander verschränkt sind – sie erleben die vielfältigen Möglichkeiten, sich bildbasiert mitzuteilen und selbst darzustellen, als selbstverständlich. Digitale Medien sind zu einem zentralen Bestandteil gesellschaftlicher Teilhabe geworden: Ihre Nutzung geht einher mit der Kommunikation unter Gleichaltrigen, der Organisation des Alltags, der Beschaffung von Informationen und dem Experimentieren mit sozialen Verhaltensweisen. Zentrale Entwicklungsthemen von Kindern und Jugendlichen werden bedient, wie z. B.: Was kommt an, was wird abgelehnt oder ignoriert?
Formen von sexualisierter Gewalt im digitalen Raum
Cybergrooming ist eine Form sexualisierter Grenzverletzungen im Internet, bei der durch gezielte, strategisch geplante Ansprache versucht wird, sexuelle Kontakte zu Kindern und Jugendlichen anzubahnen. Im digitalen Raum ist es leicht möglich, eine falsche Identität oder falsche Absichten vorzutäuschen. Gerade Kinder und Jugendliche, denen es in ihrem Umfeld an Zuwendung mangelt oder die ausgegrenzt werden, lassen sich unter Vortäuschung falscher Identität oder Absichten eher auf eine persönliche Kommunikation mit Online-Bekanntschaften ein.2 Das Spektrum reicht von grenzverletzender Anmache über Belästigung und Stalking bis hin zur Anbahnung von schweren Straftaten.
Bei der der sogenannten „Loverboy-Masche“3 nutzen kriminelle Männer die Unerfahrenheit von teils minderjährigen Mädchen* aus, um sie im Netz anzusprechen, zu manipulieren und schließlich in die Prostitution zu zwingen.
Sexting setzt sich aus „Sex“ und dem englischen Wort „texting“ (eine Nachricht versenden) zusammen. Dabei geht es um Menschen (zumeist Erwachsene), die sich nackt oder leicht bekleidet selbst fotografieren und diese Bilder verschicken. Mit dem verbreiteten Smartphone-Besitz immer jüngerer Altersgruppen ist Sexting nicht nur zu einer Praxis unter Erwachsenen, sondern auch unter Jugendlichen geworden.
Sexting unter Jugendlichen ist nicht per se ein Problem: „Als Variante intimer Kommunikation kann das Austauschen von erotischen Aufnahmen Nähe und Vertrauen, einen positiven Zugang zu Körperlichkeit und zu der eigenen Sexualität ausdrücken.“4
Zu Missbrauch kann es kommen, wenn intime Aufnahmen nicht-einvernehmlich versendet und verbreitet werden mit dem Ziel, eine Person bloßzustellen und zu entwerten. Dies kann z.B. als Racheakt nach Beendigung einer Beziehung erfolgen („Revenge Porn“). In diesem Fall handelt es sich um eine Form von sexualisierter (Peer-)Gewalt mit Medienunterstützung.
Weitere Formen sexualisierter Gewalt mit Medienunterstützung sind:
Prävention
Grenzachtendes Verhalten sich selbst und anderen gegenüber ist ein zentraler Baustein der Prävention von sexualisierter Gewalt. Fachkräfte sollten deshalb die Medienkompetenz der Eltern in den Blick nehmen und sie in ihrer Vorbildrolle stärken. Denn Eltern, die die Grenzen des Kindes nicht wahren, posten mitunter schon von sehr jungen Kindern bedenkenlos Fotos oder Videos im Netz und verletzen damit den persönlichen Intimbereich des Kindes (Sharenting).
Erziehungsverantwortliche – auch in Organisationen – sollten für einen sorgsamen, respektvollen Umgang mit Kinderaufnahmen in der digitalen Welt sensibilisiert werden.
Um sich vor Cybergrooming zu schützen, sollten die Privatsphäre-Einstellungen der einzelnen verwendeten Dienste genutzt werden. Ein gesundes Misstrauen gegenüber fremden Personen im Netz ist generell angebracht.
Ratsam ist es, Eltern sowie Kindern und Jugendlichen folgende Strategien zu vermitteln:
In die sexuelle Bildung und sexualpädagogischen Ansätze sollte die Beziehungsdimension von Sexualität mit einbezogen werden. Außerdem sollte über Einvernehmlichkeit in Beziehungen – online und offline – gesprochen werden. Auch der Umgang mit starken Gefühlen (Neid, Eifersucht, Ohnmacht) kann ein Anlass sein, um über Grenzverletzungen und Übergriffe mit Jugendlichen ins Gespräch zu kommen. Auch sollten tradierte Geschlechterrollen reflektiert werden. Die Debatte über das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ab 14 Jahren, dem möglicherweise geschlechterstereotype Vorstellungen gegenüberstehen, kann zu einem Perspektivwechsel führen: Weg vom Victim Blaming (dem Verantwortlichmachen der Betroffenen) und sogenanntem Slut-Shaming (sexistischer Beleidigung insbesondere gegenüber Frauen und Mädchen*) hin zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Bildern und Privatsphäre.
Da sexuelle Bildung in diesem Kontext präventiv wirken kann, ist eine sexualfreundliche Erziehung in Organisationen der Bildung, Erziehung und Betreuung empfehlenswert. Mehr zu sexueller Bildung hier.
Um Übergriffe im digitalen Raum zu verhindern und Betroffenen wirksam zu helfen, fordert der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), dass Online-Risiken auch Berücksichtigung in Schutzkonzepten von Einrichtungen und Organisationen finden müssen. Einzelne Bestandteile und Best-Practice-Beispiele werden ausführlich beschrieben unter digital.kein-raum-fuer-missbrauch.de.
1 Berg, Achim: Bitkom-Research: „Kinder und Jugendliche in der digitalen Welt.“ Berlin: 2019, S. 3 (abgerufen am 15.12.2021)
2 vgl. z. B. ARD: Eltern müssen sich in den digitalen raum selbstständig einarbeiten. Interview mit dem Kriminologen Thomas-Gabriel Rüdiger (abgerufen am 25.3.2022)
3 Der Begriff „Loverboy“ ist stark verharmlosend. Es handelt sich bei diesen Tätern um Menschenhändler, die eine bestimmte Strategie haben, um Mädchen und Frauen in die Prostitution zu zwingen. Die Methode beruht größtenteils auf emotionaler Gewalt. Schwierig ist, dass sich der Begriff bereits in der breiten Öffentlichkeit etabliert hat, häufig aber in der Berichterstattung der Bezug zum Thema Menschenhandel fehlt. (vgl. Expertise des KoK Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e.V. (Hrsg.): Expertise zum Thema deutsche Betroffene von Menschenhandel. Berlin: 2011 und Sandra Norak: Stellungnahme zur Vorlage 17/1796 im Rahmen der Öffentlichen Anhörung zur Entwicklung der sogenannten „Loverboy-Methode“ zur Erzwingung von Prostitution in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf: 2019
4 vgl Döring, Nicola Prof. Dr.: „Warum Sexting unter Jugendlichen (k)ein Problem ist“ (2014; abgerufen am 15.2.2022)
Prävention von sexualisierter Gewalt hat zahlreiche Facetten und muss bei verschiedenen Personengruppen und auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen.
Prävention kann viel und Prävention ist vielfältig. Ein Schwerpunkt präventiven Agierens liegt darin, Mädchen* und Jungen* zu befähigen, ihre Gefühle und ihre Grenzen wahrzunehmen sowie sie für die Grenzen anderer zu sensibilisieren. Prävention unterstützt Kinder und Jugendliche darin, ihr Gefühlsspektrum zu erweitern und ihren Eigensinn wahrzunehmen. Sie macht ihnen Mut, ihre Grenzen nach außen zu vertreten – auch gegenüber Erwachsenen – und sich Unterstützung zu holen, wenn sie nicht weiterwissen. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass sich Prävention nicht ausschließlich an Kinder richtet. Wir Erwachsenen sind vorrangig für den Schutz von Kindern und Jugendlichen zuständig. Prävention bedeutet Aufklärung und Wissen für Erwachsene. Das Zutagetreten von sexualisierter Gewalt in organisationalen Kontexten, in Kindertagesstätten, Schulen, Vereinen und Verbänden hat uns verdeutlicht, dass wir noch lange nicht genug tun, um Kinder und Jugendliche in ihrer jeweiligen Lebenswelt ausreichend zu schützen.
Zur Prävention gehört es, sich mit unseren Stereotypen, mit unseren Denk- und Handlungsmustern auseinanderzusetzen, die unsere pädagogische Praxis prägen, und Mythen freizulegen, die sich um das Thema ranken. So ist es neben der weit verbreiteten falschen Annahme, dass hauptsächlich fremde Männer sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ausüben, auch Fakt, dass Frauen als Täterinnen bei uns kaum oder gar nicht ins Blickfeld geraten. Frauen wird in der Regel in der Bildung und Betreuung von Kindern und Jugendlichen, also im pädagogischen Alltag, viel mehr an Handlungen, die körperliche Nähe mit sich bringen können, zugestanden als Männern. Der Mythos der „guten Mutter“ sitzt tief und dass auch Frauen Gewalt ausüben, lässt sich nur schwer mit unserem Bild der vermeintlichen weiblichen Fürsorglichkeit und Sanftheit vereinbaren. Wir Erwachsenen sind dazu angehalten, unsere Vorstellungen von Weiblich- und Männlichkeiten zu überprüfen, um Interaktionen zwischen Kindern bzw. Jugendlichen und Erwachsenen in professionellen Kontexten angemessen bewerten zu können.
Querschnittlich zu den beschriebenen Dimensionen von Prävention und darüber hinaus bedeutet präventives Arbeiten auch, Sexismus in Gesellschaftsstruktur und Sprache entschieden entgegenzutreten. Dies gilt zum Beispiel für sexistische Diskriminierungen als Form der Abwertung von Mädchen* und für das Bild des „starken Mannes“, unter dem Jungen* keine Schwäche zeigen dürfen – beides Aspekte, die den Strategien von Täter*innen in die Hände spielen können.
Eltern und Fachkräfte benötigen Wissen über Strategien von Täter*innen, denn: Sexualisierte Gewalt geschieht nie spontan, sondern ist immer eine gut geplante Tat. Täter*innen verfügen über zahlreiche Strategien, um unentdeckt zu bleiben. Sie manipulieren über einen längeren Zeitraum Menschen in ihrem sozialen Umfeld und bereiten die Tat strategisch vor. Der sogenannte Grooming-Prozess beinhaltet, dass Täter*innen das Schamempfinden von Kindern und Jugendlichen sukzessive zu erweitern versuchen. Mädchen* und Jungen*, die um ihre Grenzen und Rechte wissen, werden sich eher anvertrauen, wenn sie ein unangenehmes Gefühl haben. Dazu gehört auch eine erlernte Sprachfähigkeit in sexuellen Dingen und die explizite Erlaubnis, darüber zu reden.
Prävention muss auf struktureller, räumlicher und pädagogischer Ebene in einer Einrichtung verankert werden. Deswegen ist es so wichtig, dass Institutionen ein Schutzkonzept mit vielen verschiedenen Bausteinen entwickeln, um ihre Einrichtung für Mädchen* und Jungen* sicher zu gestalten. Leitung und Mitarbeiter*innen einer Einrichtung, in der sich Kinder und Jugendliche aufhalten, haben die Verantwortung, Kinder und Jugendliche zu schützen und in der Wahrnehmung und Durchsetzung ihrer subjektiven Grenzen zu stärken. Gleichzeitig müssen sie Täter*innen durch Intervention und Sanktion Grenzen setzen. Für Betroffene ist der letzte Punkt besonders wichtig, weil er zeigt, wo die Verantwortlichkeit liegt: nämlich beim Erwachsenen, der die Grenzverletzung bzw. sexualisierte Gewalt verübt hat.
Sexuelle Bildung ist vielseitig und kann in einem erheblichen Maße dazu beitragen, Mädchen* und Jungen* vor sexualisierter Gewalt zu schützen.
Ein zentraler Baustein der Prävention von sexualisierter Gewalt ist die Sexuelle Bildung. Die Wichtigkeit der Thematik und die Verbindung beider Komplexe wird oftmals nicht ausreichend mitgedacht. Der Umgang von Kindern und Jugendlichen mit dem eigenen sexuellen Erleben, dem eigenen Körper und die verbale wie mediale Kommunikation darüber können in erheblichem Maße zu ihrem Schutz oder gegenteilig zu ihrer Vulnerabilität beitragen.
Mädchen* und Jungen* sind insbesondere dann durch sexualisierte Gewalt gefährdet, wenn sie auf ihre Fragen zur Sexualität und zu ihrem Körper keine altersangemessenen oder überhaupt keine Informationen erhalten.
Mit einer sexualfreundlichen Erziehung können Kinder und Jugendliche lernen, eigene Grenzen und die anderer Mädchen* und Jungen* sowie Erwachsener kennenzulernen und zu respektieren. Dass dadurch die sexuelle Aktivität von Kindern verstärkt werde, ist ein Irrglaube. Mädchen* und Jungen* sind von Natur aus neugierig und entdecken ihre Welt. Sie brauchen dabei keine Erwachsenen, die alles wissen. Aber sie wünschen sich Bezugspersonen, die ihren Fragen offen begegnen und einen Raum für alle Themen ihrer Lebenswelt schaffen.
Wichtige Aspekte der Prävention von sexualisierter Gewalt sind z.B:
die Stärkung des kindlichen Selbstwertgefühls
„Kinder von Geburt an als sexuelle Wesen anzuerkennen, bedeutet auch, den Mythos vom angeblich ‚unschuldigen‘ bzw. ‚reinen‘ Kind aufzugeben. Die Vorstellung, dass Kinder unbelastet von sexuellen Empfindungen, Gedanken und Handlungen aufwachsen könnten, ist eine realitätsferne Fiktion, die Kindern nicht gerecht wird und ihnen sogar Schaden zufügen kann.“ (Maywald 2018, S. 19)
Das heißt, dass Sexuelle Bildung in der frühen Kindheit Einzug in die Lebenswelt von Mädchen* und Jungen* erhalten sollte. Prävention beginnt hier! Im Elternhaus, in der Kindertagesstätte, bei Tagesmüttern und -vätern und in der Schule.
Sexuelle Bildung umfasst dabei mehr als Informationen zu geschlechtlicher Körperfunktion, Schwangerschaft und Geburt. Es geht um eine kind- und altersgemäße Sexualerziehung, die Mädchen* und Jungen* von Geburt an in ihrer individuellen Persönlichkeit stärkt.
Quellen:
Maywald, Jörg: Sexualpädagogik in der Kita. 3. überarb. Ed., Freiburg/Basel/Wien 2018, S.19
https://www.euro.who.int/de/health-topics/Life-stages/sexual-and-reproductive-health/news/news/2011/06/sexual-health-throughout-life/definition
Wie lässt sich sexualisierte Gewalt erkennen und durchbrechen? Was muss dabei berücksichtigt werden?
Trotz umfassender präventiver Bemühungen können nicht alle sexualisierten Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche verhindert werden – umso wichtiger ist es, Gewaltdynamiken frühzeitig und gezielt zu durchbrechen.
Hierzu bedarf es zunächst der sensiblen Wahrnehmung von Anhaltspunkten, insbesondere von Hinweisen und Aussagen des Kindes bzw. der*des Jugendlichen, aber auch von Aussagen Dritter oder von Beobachtungen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Betroffene keine einheitlichen Verhaltensweisen zeigen, die zweifelsfrei auf sexualisierte Gewalterfahrungen hindeuten, da die individuelle Verarbeitung solcher Erlebnisse höchst unterschiedlich verläuft.
Die Gesamtbewertung aller Anhaltspunkte bildet die Grundlage jedweder Intervention, die je nach Fallkonstellationen insbesondere durch bzw. mit Unterstützung des Jugendamts erfolgen sollte. Auch die Hinzuziehung von Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Staatsanwaltschaft) kommt im Zuge von Interventionen in Betracht, jedoch sollte darüber gemeinsam mit bzw. im Sinne der Betroffenen entschieden werden, um deren Willen bzw. Wohl in den Mittelpunkt zu stellen – anders also, als sie es in der sexualisierten Gewalterfahrung erlebt haben. Zudem können die teils langwierigen Ermittlungen und Verfahren als erheblich belastend, sogar (re-)traumatisierend erlebt werden. Aus diesen Gründen gibt es in Deutschland keine Pflicht zur Anzeige von Straftaten durch sexualisierte Gewalt. Vorrangig ist der Schutz vor weiteren Gewalttaten und die Nachsorge für Betroffene.
Grundsätzlich gilt, dass Interventionsverläufe auch und gerade in unsicheren und hoch emotionalisierten Situationen planvoll und in Abstimmung aller relevanten Beteiligen vorbereitet und umgesetzt werden sollten. Breite Unterstützung für Kinder, Jugendliche, Eltern, Privatpersonen und Fachkräfte leisten dabei einschlägige Fachberatungsstellen. Je nach Berufsfeld müssen bzw. können sich alle Personen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, durch sogenannte Kinderschutzfachkräfte („insoweit erfahrene Fachkraft“ nach §§ 8a, 8b SGB VIII, § 4 KKG) anonymisiert beraten lassen. Auch die örtlichen Jugendämter leisten qualifizierte Beratung, auf Wunsch ebenfalls anonym im Vorfeld der formellen Meldung eines Gefährdungsverdachts.
Mehr zur Intervention mit Bezug auf Rechte- und Schutzkonzepte hier.
Das Erleben von sexualisierter Gewalt ist insbesondere für betroffene Kinder und Jugendliche, aber auch für deren indirekt betroffenes Umfeld mit potenziell erheblichen Belastungen verbunden – diesen gilt es im Anschluss an Interventionen zur Beendigung von Gewaltdynamiken zeitnah durch passgenaue Unterstützungsmaßnahmen zu begegnen.
Je nach individuellem Bedarf und Bedürfnis des Kindes oder Jugendlichen muss dies nicht zwangsläufig die Inanspruchnahme professioneller Hilfemaßnahmen bedeuten, sondern kann zunächst ein offenes Ohr und eine sensible Begleitung durch jemand Nahestehenden sein. Ist das nicht ausreichend, so leisten Fachberatungsstellen für sexualisierte Gewalt punktuelle oder phasenweise Beratung für Betroffene und deren Bezugspersonen und können zudem, sofern Betroffene nicht den direkten Weg dorthin suchen, psychotherapeutische Hilfen vermitteln. Fachkräfte können als Einzelpersonen oder in Teams häufig ebenfalls auf Fachberatungsstellen und zudem auf Supervisor*innen zurückgreifen. Dort, wo sexualisierte Gewalt in organisationalen Kontexten – Vereine, Schulen, Wohngruppen etc. – verübt wurde, bedarf es zudem eines Aufarbeitungsprozesses. Dieser muss den Entstehungsprozess analysieren und vor diesem Hintergrund gezielte (Weiter-)Entwicklungsprozesse auf den Weg bringen, um Kinder und Jugendliche zukünftig besser zu schützen. Solche Prozesse bedürfen einer externen Begleitung, die neben den genannten Akteur*innen auch durch qualifizierte Organisationsberater*innen erfolgen kann.
*Wir verstehen Gender, also die Geschlechtsidentität, als ein variables und sich entwickelndes Spektrum. Darum verwenden wir genderneutrale Formulierungen und das Gendersternchen. Mehr dazu hier.