Mehr Handlungssicherheit dank neuer Technologien


Ein innovatives Training für Fachkräfte zur Gesprächsführung im Verdachtsfall sexualisierter Gewalt

„Wir haben eine umfassende Evaluation durchgeführt und festgestellt: Die Teilnehmenden verbessern sich in ihrer Art, Fragen zu stellen, sie verbessern sich in ihrer Art, das Kind emotional zu unterstützen. Sie fühlen sich viel selbstwirksamer im Anschluss und trauen sich viel mehr selbst zu, solche Gespräche zu führen.“

 (Elsa Gewehr und Anett Tamm von der Psychologischen Hochschule Berlin)

Zum Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt am 18.11.2024 möchten wir auf ein möglicherweise zukunftsweisendes Trainingsprogramm aufmerksam machen.

Passend zum Motto des Tages, der sich dieses Jahr um Chancen und Grenzen von neuen Technologien dreht, bietet das Programm pädagogischen Fachkräften eine praxisnahe Möglichkeit, sich in einem virtuellen Setting gezielt auf eine sensible Gesprächsführung vorzubereiten, wenn sie sexualisierte Gewalt vermuten. Es wurde im Verbunds-Forschungsprojekt ViContact für Lehrkräfte sowie Kinderschutzfachkräfte entwickelt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

Kürzlich haben wir ja unter Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe aktuelle Bedarfe und Fragestellungen erfasst. Eines der zentralen Ergebnisse: Das Bedürfnis nach Handlungssicherheit und Informationen zur Gesprächsführung im Verdachtsfall ist groß. Hier scheint es im professionellen Kontext eine Lücke zu geben, dabei ist die Rolle der Fachkräfte bei der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt mitunter sehr bedeutsam:

Pädagogische Fachkräfte können die ersten Erwachsenen außerhalb der Familie sein, die Anzeichen von Belastung oder Notlagen bei Kindern und Jugendlichen wahrnehmen, beispielsweise plötzliche Verhaltensänderungen, Leistungsabfall oder sozialen Rückzug. Solche Symptome können aber viele Ursachen haben. In diesen Momenten kommt es deshalb auf eine wertfreie, unterstützende und ergebnisoffene Gesprächsführung und entsprechende Fragetechniken an. Nur so können Kinder und Jugendliche sich öffnen und weitere Schritte eingeleitet werden, ohne dass die Situation durch Vorannahmen oder suggestive Fragen beeinflusst wird.

Das ViContact-Training, das von der Psychologischen Hochschule Berlin unter der Leitung von Prof. Renate Volbert gemeinsam mit der Universitätsmedizin Göttingen unter der Leitung von Prof. Jürgen Müller und der Europa-Universität Flensburg unter der Leitung von Prof. Simone Pülschen entwickelt wurde, nimmt diese Fragetechniken in den Blick. Es kombiniert ein fundiertes E-Learning-Modul mit einem innovativen Virtual-Reality-Training. Im E-Learning-Modul vermitteln Videos, Wissensinhalte und Übungsaufgaben die Grundlagen der unterstützenden Gesprächsführung. Die Teilnehmenden wechseln dann in ein Virtual-Reality-Setting, in dem sie mithilfe von simulierten, kindlichen Gesprächspartner*innen Gesprächstechniken einüben und gezielt Feedback zu ihrer Gesprächsführung erhalten. Hierbei geht es ausschließlich um Erstgespräche, in denen ermittelt werden soll, ob es weiteren Handlungsbedarf gibt. Aktuell steht dieses Setting nur im Labor in Berlin zur Verfügung, künftig sollen Einrichtungen es auch für den lokalen Einsatz buchen können. 

Das ViContact-Training kann ein praxisnahes Werkzeug für Fachkräfte werden, die in ihrem Arbeitsalltag auf herausfordernde Gesprächssituationen und mögliche Verdachtsfälle vorbereitet sein wollen. Das Projekt befindet sich in der Abschlussphase, in der Folge soll ein Kompetenzzentrum eingerichtet werden. Für pädagogische Fachkräfte wird das Training voraussichtlich im Laufe des Jahres 2025 zur Verfügung stehen – wir sind sehr gespannt darauf und halten Sie auf dem Laufenden.   

Wir haben uns mit den Entwicklerinnen und Psychologinnen Elsa Gewehr und Anett Tamm von der Psychologischen Hochschule Berlin über das Projekt unterhalten.

Hinweis: Der Fokus des Trainings liegt auf den grundlegenden Fähigkeiten zur Gesprächsführung für ein Erstgespräch, das auf eine mögliche Offenlegung abzielt. Mit Blick auf den Komplex der Intervention bei Anhaltspunkten auf / im Fall von sexualisierter Gewalt sind die Definition von Verantwortlichkeiten und Verfahrensabläufen beim Einschreiten und ein bedachtes, kooperatives Vorgehen unerlässlich. Dazu können Sie sich hier weitergehend informieren.

PsG.nrw: Was genau war das Ziel des Forschungsprojekts?

Ziel war die Entwicklung und Evaluation eines Trainingssystems, um Personen, die in der Praxis Gespräche mit Kindern zur Abklärung von Verdachtsfällen sexuellen Missbrauchs führen (wir benutzen meist diesen strafrechtlichen Begriff), in der konkreten Gesprächsführung zu trainieren. Dabei geht es immer um Erstgespräche in einem solchen Verlauf.

Wir konzentrieren uns dabei auf die Frage: Wie kann man mit Kindern die Gespräche so führen, dass die Kinder sich sicher genug fühlen, sich jemandem zu öffnen und zu erzählen, was sie erlebt haben? Sie sollen optimal darin unterstützt werden, ihr autobiografisches Gedächtnis abzurufen. Es soll vermieden werden, sie so zu beeinflussen, dass falsche Informationen zutage treten oder es langfristig eine Veränderung von Gedächtnisinhalten geben kann.

PsG.nrw: Woraus besteht das Programm und wie läuft es ab?

Aktuell besteht es zum einen aus einem E-Learning-Programm. Das umfasst etwa 10 Stunden und besteht unter anderem aus Lehrvideos und praktischen Übungen, zum Beispiel zur Gesprächsführung mit Kindern, dazu, wie Kinder sich erinnern, zu sexualisierter Gewalt im Allgemeinen etc. Die Teilnehmenden können beispielsweise üben, Fragen so zu formulieren, dass sie für die Kinder emotional unterstützend sind.

Dann gibt ein Präsenztreffen mit uns beiden und der Teilnehmendengruppe. Da können alle möglichen Themen besprochen werden, die sich in diesem E-Learning-Format nicht so gut umsetzen lassen. Beispielweise wenn die Teilnehmenden aus ihrer beruflichen Praxis bestimmte Konstellationen kennen, die wir in unserem E-Learning nicht abgedeckt haben.

Wir führen auch noch mal praktische Übungen anhand von realen Fallbeispielen durch.

Die Gruppe besteht aus zehn bis maximal 20 Personen aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Diese sollen sich miteinander vernetzen und in Kontakt kommen.

Danach folgen die Übungsgespräche in der virtuellen Realität. Aktuell kommen die Teilnehmenden dafür zu uns ins Labor. Für die Zukunft hoffen wir, dass wir unser System auch vor Ort anbieten können.

Hier werden dann Gespräche mit virtuellen Kindern geführt und die Teilnehmenden erhalten dazu Feedback.

Abschließend gibt es ein Supervisionsmodul, welches wir jedoch noch nicht in der Praxis getestet haben. Das soll die Brücke schlagen zum beruflichen Alltag der Teilnehmenden. Im Supervisionsmodul haben sie die Möglichkeit, uns anonymisiert Protokolle von eigenen Gesprächen zu übermitteln, und wir geben Feedback zur Gesprächsführung, also zur Art der Fragen, ob Unterstützung gegeben wurde, ob bestimmte Dinge am Anfang und im Verlauf berücksichtigt wurden.

PsG.nrw: Wie sehen die Gespräche aus?

Die Gespräche dauern zehn Minuten und finden in einem 3-D-Setting statt, die Teilnehmenden tragen eine VR-Brille. Die Gesprächssituation ist so: Man sitzt mit dem Kind im Klassenraum. Es ist eine zehnminütige Hofpause, alle anderen Kinder sind draußen. Und das Kind kommt auf einen zu oder man soll das Kind ansprechen.

Die Teilnehmenden lesen vorher eine Fallvignette über ein Kind, sein Befinden und sein Lebensumfeld, in dem ein Verdachtsmoment aufgekommen ist.

Dann erhalten sie die Aufgabe, das Kind zu befragen, um herauszufinden, was passiert ist. Sie können das Kind in der virtuellen Realität verbal befragen und das Kind antwortet weitgehend passend auf die Fragen, die man gestellt hat.

Die Kinder öffnen sich nur dann und berichten nur dann akkurat, was ihnen „passiert“ ist, wenn sie mit den Methoden und mit den Fragetechniken befragt werden, die die Teilnehmenden vorher im E-Learning gelernt haben.

Im Anschluss an die Gespräche bekommen die Teilnehmenden automatisiertes Feedback zu ihrer individuellen Gesprächsführung. Zum Beispiel wird zurückgespielt, wie viele zielführende oder weniger zielführende Fragen sie gestellt haben und welche Arten von Fragen das waren.

Die Teilnehmenden bekommen einige ihrer Fragen noch einmal schriftlich angezeigt und sehen einen kleinen Text zu der Fragekategorie und den Auswirkungen dieser Art von Fragen. Je nachdem werden sie dazu ermutigt, davon mehr zu stellen oder sie zu vermeiden. So können sie sich über die Gespräche hinweg verbessern.

PsG.nrw: Wie können wir uns diese virtuellen Kinder genau vorstellen?

Die virtuellen Kinder sehen schon computergeneriert aus, es sind also keine fotorealistischen Gestalten. Wichtig sind die einprogrammierten Gedächtnisinhalte zu verschiedenen Themen, die sie dann, wenn man sie fragt, freigeben können.

Sie sind um die zehn Jahre alt. Die besonderen Herausforderungen mit besonders jungen Kindern konnten in diesem Pilotprojekt noch nicht umgesetzt werden.

Wir haben gleichermaßen Jungen wie Mädchen. Dann ist z. B. ein Kind dabei, das nicht so gut sehen kann, und eines hat einen Migrationshintergrund.

Die Kinder haben allgemeine Gedächtnisinhalte zu Familie, Schule, Freundschaften, aber auch zu jeweils einem kritischen Erlebnis, um das es in dem Gespräch zentral gehen soll. Diese Erlebnisse können aus drei Bereichen kommen: Es kann ein Erlebnis sexualisierter Gewalt sein, es kann aber auch ein anderes Erlebnis sein, welches interventionsbedürftig ist. Sprich eine andere Kindeswohlgefährdungslage oder Form von Vernachlässigung. Oder es kann etwas sein, das zwar belastend für das Kind war, aber keiner direkten Intervention durch eine erwachsene Person bedarf, z. B. eine Auseinandersetzung mit einem Mitschüler oder einer Mitschülerin. Jedes virtuelle Kind, mit dem man sich unterhält, hat immer nur eines von diesen drei Ereignissen erlebt.

Die Aufgabe ist es dann, mit dem Kind zu sprechen und herauszufinden, was passiert ist. Wir haben diese drei Varianten entwickelt, weil wir das Anliegen haben, auch zu vermitteln, dass Teilnehmende ergebnisoffen befragen sollen. Es geht nicht nur darum herauszufinden, ob beispielsweise ein sexueller Missbrauch vorliegt oder nicht, sondern sie sollen lernen, den Kindern zuzuhören und so die Information zu erhalten, was bei ihnen vorgefallen ist.

Die Interaktion mit den Kindern funktioniert so, dass man ihnen eine Frage stellt, die aufgenommen und auf verschiedenen Ebenen kategorisiert wird, beispielsweise wird zwischen erwünschten und unerwünschten Fragekategorien unterschieden. Erwünschte Fragen sind zum Beispiel Erzählaufforderungen oder Formen aktiven Zuhörens. Unerwünschte Fragen sind Suggestivfragen, aber auch Ja-Nein-Fragen, Auswahlfragen oder unverständliche Fragen.

Im Hintergrund gibt es einen komplexen Algorithmus, der basierend auf der kategorisierten Frageform und dem Inhalt der Frage bestimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Antwort ausgegeben wird. Dieser Algorithmus wurde nach Forschungserkenntnissen dazu programmiert, wie Kinder antworten, wenn sie die verschiedenen Arten von Fragen gestellt bekommen.

Es sind aber auch unsere praktischen Erfahrungen aus eigenen Befragungen mit eingeflossen und letztlich auch ein paar didaktische Überlegungen.

Das Gespräch ist nach 10 Minuten zu Ende, kann auch selbstständig beendet werden. Dann bekommen die Teilnehmenden das Feedback dazu.

Dadurch, dass die Kinder auch ganz viel allgemeines Wissen besitzen, kann man beim Gesprächseinstieg auch über andere Dinge mit ihnen sprechen. So besteht die Möglichkeit, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, sondern den Einstieg neutral oder positiv zu gestalten.

Außerdem haben wir zwei Varianten umgesetzt: Es gibt Kinder, die kommen von sich aus auf die Gesprächspartner*in zu und sagen: „Haben Sie ein Moment Zeit für mich? Ich möchte gern was erzählen.“ Hier ist die Aufgabe, das aufzugreifen und aktiv zuzuhören. Da sind die Wahrscheinlichkeiten, dass das Kind einer erwachsenen Person etwas Relevantes sagt, höher.

Und dann haben wir die Variante, in der es eine Auffälligkeit gibt. Bei der Variante ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder gleich was Relevantes sagen, geringer. Denn wie im wahren Leben haben sich die Kinder ja noch gar nicht dafür entschieden, sich zu offenbaren. Da ist es wichtig, dass die Teilnehmenden erst einmal unterstützend fragen, sodass die Kinder merken: Mit der Person kann ich mich unterhalten, die ist auch in der Lage, sich das anzuhören. Und dann steigt die Wahrscheinlichkeit für informative Antworten je nachdem, wie gut gefragt wird und ob unterstützende Techniken angewandt werden.

So kann ein möglichst realistisches Gespräch mit diesen virtuellen Kindern geführt werden.

Die Teilnehmenden bekommen nach einer gewissen Zeit einen Hinweis, dass das Gespräch jetzt nahezu zu Ende ist. Und dann wissen sie: Spätestens jetzt sollten sie, wenn sie etwas herausgefunden haben, noch fragen, ob das Kind schon mit jemandem darüber gesprochen hat, ob das Vorgefallene aktuell ist und wie häufig es passiert ist. Haben sie alle Informationen, die notwendig sind, um einzuschätzen, wie hoch der Handlungsbedarf ist?

PsG.nrw: Wie gehen Sie um mit Teilnehmenden, die selbst Betroffene sind?

Teilnehmende werden zu Beginn über die Inhalte des Trainings informiert und können das Gespräch abbrechen, falls es emotional zu belastend wird. Im Praxistest war dies bislang nicht nötig. Die Teilnahme an dem Training ist zudem immer freiwillig.

Und dann findet dieses virtuelle Setting ja innerhalb der Realität statt. Die Person hat die VR-Brille auf dem Kopf, und eine ViContact-Mitarbeiterin, die das System steuert, sitzt mit im Raum und bekommt auch mit, wenn es emotional belastend wird. Sie könnte eingreifen und ist ansprechbar. Auch im Anschluss können solche emotionalen Belastungen noch besprochen werden. Bei der größeren Evaluationsstudie, die wir durchgeführt haben, wurde optional eine professionelle psychologische Beratung im Anschluss an die VR-Gespräche angeboten, falls sich jemand belastet fühlt. Das wurde aber von den Teilnehmenden nicht in Anspruch genommen.

Die Frage rührt sicher auch von der Vorstellung her, dass diese virtuellen Gespräche sehr belastend sein können. Vielleicht gibt es da eine falsche Vorstellung darüber, wie intensiv und im Detail sexualisierte Gewalt besprochen wird. Die Kinder haben ja vordefinierte Sätze zu dem, was sie erlebt haben. Das sind alle möglichen Sätze über verschiedene Bereiche des Lebens sowie über einen potenziell problematischen Bereich. Und einige Kinder, die so programmiert sind, dass sie sexuellen Missbrauch erlebt haben sollen, sagen eben auch Sätze zu sexuellem Missbrauch. Die sexuellen Handlungen an sich werden nicht sehr detailliert besprochen.

Dieses Training – das ist ein wichtiges Merkmal – ist ausgerichtet auf Erstgespräche. Und in denen geht es anders als in forensischen Gesprächen (also bei der Polizei, vor Gericht oder in der Begutachtung) erst einmal darum herauszufinden, ob es überhaupt Handlungsbedarf gibt und wie dieser ungefähr aussehen kann. Dafür müssen die Lehrkräfte und auch die Fachkräfte nur so viel wissen, dass sie einschätzen können: Ist es sexualisierte Gewalt, ist es eine sonstige Form von Kindeswohlgefährdung oder ein anderes interventionsbedürftiges Ereignis?

Und: Ist das Kind aktuell in Gefahr, von wem geht die potenzielle Bedrohung aus, wie häufig ist es schon passiert, hat das Kind mit jemandem gesprochen?

Ist für die Teilnahme an dem Training ein gewisses Vorwissen erforderlich?

Man braucht kein Vorwissen, man bekommt wesentliches Wissen im E-Learning vermittelt und kann es dann anwenden. Das Training ist so aufgebaut, dass grundlegende Fähigkeiten zur Gesprächsführung vermittelt werden, die übergreifend in verschiedenen Bereichen gelten.

PsG.nrw: Müssen Einschätzungen nicht eher im Team vorgenommen werden?

Tatsächlich wurde von den Teilnehmenden vor allem aus dem Bereich Jugendamt auch angemerkt, dass man solche Gespräche eigentlich nicht allein durchführen würde, wenn man schon etwas weiß. Aber der Fokus liegt bei uns ja auf dem Erstgespräch, das auf eine mögliche Offenbarung abzielt, und auf dem Erwerb der Fähigkeiten zur Gesprächsführung. Deshalb ist hier nur eine Eins-zu-eins-Situation dargestellt.

Die trainierende Person soll diese grundlegenden basalen Fähigkeiten zur Gesprächsführung lernen und üben können.

PsG.nrw: Wie kann gewährleistet werden, dass sich die Lerninhalte verfestigen und im Alltag angewendet werden können?

Einmal dadurch, dass die Teilnehmenden mehrere Durchgänge haben, in denen sie das Feedback, das sie bekommen haben, gleich umsetzen, üben und festigen können. Auch im Präsenztermin wird eine Kopplung zum Arbeitsalltag der Teilnehmenden hergestellt. Wir laden da auch sehr stark dazu ein, über herausfordernde Gesprächssituationen aus dem eigenen beruflichen Alltag zu berichten.

Beim letzten Mal hatten wir verschiedene Professionen im Kurs, sodass die Teilnehmenden auch voneinander etwas lernen konnten.

Und dann gibt es noch das Supervisionsmodul, das konkret auf den Transfer des gelernten Wissens in die Praxis abzielt.

Was wir bisher von den Teilnehmenden aus dem Kinderschutz nach dem ersten Praxistest gehört haben, war, dass sie nach dem Training gleich die ersten allgemeinen Gespräche mit Kindern, auf ganz andere Art und Weise geführt haben. Und dass sie verblüfft waren, wie viel sie von den Kindern erfahren haben. Das waren Gespräche zu allen möglichen Themen, gar nicht zu sexualisierter Gewalt, sondern zum Beispiel dazu, wie es in der Schule läuft. Die Teilnehmenden berichteten, dass sie da normalerweise wenig erfahren: Wie war es in der Schule? Gut, schlecht, naja … Da kommt nicht so viel. Jetzt haben sie angefangen, diese offenen Erzählaufforderungen, die wir ihnen beibringen, viel mehr mit einzubringen und zu zeigen, dass sie sich wirklich für das Kind interessieren. Sie fragen nicht mehr einfach, war es gut in der Schule, sondern: Mensch, ich interessiere mich total dafür, wie es bei dir in der Schule läuft – erzähl mir doch mal, wie heute der Tag war. Und dann fragen sie weiter, mit offenen Erzählaufforderungen.

Der nächste Schritt ist jetzt zu gucken, ob der Trainingserfolg auch über einen längeren Zeitverlauf, zum Beispiel drei Monate, stabil bleibt.

ViContact: Eine Teilnehmerin mit VR-Brille und das Kind im virtuellen Setting

Elsa Gewehr (M. Sc. Psychologie, M. Sc. Rechtspsychologie) ist als Rechtspsychologin in Wissenschaft und Praxis tätig. Sie ist Mitentwicklerin des ViContact-Trainingssystems und Teil des ViContact-Projektteams an der Psychologischen Hochschule Berlin. Sie promoviert bei Frau Prof. Dr. Renate Volbert zu individuellen Unterschieden im suggestiven Frageverhalten von Erwachsenen in Gesprächen mit Kindern über sexuellen Missbrauch. Im Jahr 2025 wird sie eine Professur für Kriminalpsychologie an der Macromedia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Berlin antreten. In der Praxis ist sie als aussagepsychologische Sachverständige für Strafverfahren tätig. 

Anett Tamm (Dipl.-Psych., Fachpsychologin für Rechtspsychologie) hat als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Psychologischen Hochschule Berlin das Trainingssystem zur Gesprächsführung in Verdachtsfällen von Missbrauch und Misshandlung „ViContact“ mit entwickelt. In der Forschung gilt ihr besonderes Interesse der unterstützenden Gesprächsführung. Außerdem arbeitet sie als psychologische Sachverständige mit Schwerpunkt Aussagepsychologie. Sie ist Mitbegründerin des Zentrums für Aussagepsychologie in Berlin und unterrichtet neben der Gutachten- und Forschungstätigkeit Personen diverser Professionen zu aussagepsychologischen Themen.

Weiterlesen

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger (@cyberkriminologe) zur Relevanz digitaler Kriminalprävention


Bei unserer Fachtagung im September 2024 zur Prävention sexualisierter Gewalt im digitalen Raum hielt Cyberkriminologe Prof. Dr. iur. Thomas-Gabriel Rüdiger einen so spannenden wie aufrüttelnden Vortrag zur Relevanz digitaler Kriminalprävention.

Wir haben ihm drei Fragen gestellt, die er hier noch einmal für alle beantwortet! 

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

PsG.nrw: Warum gibt es laut Statistik immer mehr Jugendliche, die sich im digitalen Raum strafbar machen?

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger: Leider müssen wir in der polizeilichen Kriminalstatistik in den letzten Jahren den traurigen Trend verzeichnen, dass immer mehr minderjährige Tatverdächtige über digitale Sexualdelikte in Erscheinung treten. Teilweise reden wir über 40 bis 50% der Tatverdächtigen.

Und hier muss man aus meiner Sicht unterscheiden zwischen zwei groben Richtungen.

Einmal haben wir zum Beispiel einen Siebzehnjährigen, der auf eine Elfjährige einwirkt um von ihr übers Smartphone ein Nacktbild zu erhalten. Das ist klassisches Cybergrooming und klassische Deliktsbegehung.

Und dann haben wir Delikte, wo digitale Bildung das Relevante ist. Beispielsweise wenn eine Vierzehnjährige mit ihrem dreizehnjährigen Freund Nacktbilder austauscht und niemand mit ihr darüber geredet hat, was hier eigentlich strafbar ist. Und sie dann also Sexting betreibt und auf einmal mit einer Strafbarkeit konfrontiert wird. Oder wenn Kinder und Jugendliche in einem Klassenchat sind, wo irgendjemand ein solches Bild postet und das dann vollautomatisch heruntergeladen wird und auf einmal eine Besitzstrafbarkeit, zum Beispiel von kinderpornografischen Delikten, im Raum steht. Da brauchen wir eher digitale Bildung als Strafrecht und hier müssen wir ansetzen.

PsG.nrw: Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Risiken für Kinder und Jugendliche im digitalen Raum?

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger: Es gibt nicht dieses eine Risiko, wo man sagen kann: Wenn man das in den Griff kriegen könnte, wäre der digitale Raum für Kinder sicherer.

Vielmehr ist es so, dass im Prinzip der digitale Raum von Erwachsenen für Erwachsene geschaffen wurde, und Schutzinteressen von Kindern spielen dabei eigentlich keine Rolle. Das merkt man bis heute. Es ist immer noch so, dass es für viele Kinder Normalität darstellen kann, im digitalen Raum mit Sexualdelikten und pornografischen Inhalten konfrontiert zu werden. Dass sie vielleicht auf Hassnachrichten treffen, auf Fake News, auf Challenges.

Es kann also nicht darum gehen, ein Phänomen in irgendeiner Form in den Griff zu kriegen, sondern es muss generell darum gehen, einen digitalen Raum zu schaffen, der auch für Kinder sicher ist. Und das sehe ich gegenwärtig in keiner Form.

PsG.nrw: Hier sind also die Plattform-Anbieter*innen und alle gesellschaftlichen Akteur*innen in der Verantwortung.

Wie können wir Kinder und Jugendliche aus kriminologischer Sicht denn am besten schützen?

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger: Gegenwärtig sind der beste Schutz für die eigenen Kinder immer noch motivierte Eltern, die sich selber fortbilden und die versuchen, ihre Kinder auf diesen digitalen Raum vorzubereiten. Wovon ich wenig halte, ist eine generelle Diskussion zum Verbot, wenn mit so einer Verbotsdiskussion nicht einhergeht, dass Kinder und Jugendliche trotzdem auf diesen digitalen Raum durch digitale Bildung vorbereitet werden. Denn das ist entscheidend: Das Social Media-Zeitalter fängt aus meiner Sicht jetzt schon an auszulaufen. Was nun vor uns steht, ist das KI-Zeitalter. Und das wird uns nochmal vor ganz andere Herausforderungen stellen, auf die wir uns jetzt schon vorbereiten müssen.

Weiterlesen

Rehabilitationsverfahren im Rechte- und Schutzkonzept


Unter vielen Fachkräften kursiert die Sorge, dass sie in der pädagogischen Praxis zu Unrecht mit Vorwürfen von (sexualisierter) Gewalt konfrontiert werden könnten. Das führt mitunter zu Verunsicherungen, insbesondere im Hinblick auf ein professionelles Verhältnis von Nähe und Distanz im pädagogischen Alltag. Fälle von tatsächlichen Falschbeschuldigungen kommen in der Praxis selten vor, aber die Angst davor bedarf einer Bearbeitung.

Für Organisationen empfiehlt sich darum die Erarbeitung eines sogenannten Rehabilitationskonzepts zur Wiederherstellung der Reputation der fälschlich angeschuldigten Person und zu ihrer Reintegration in die Organisation und pädagogische Tätigkeit.

Die mögliche Rehabilitation einer falsch beschuldigten Person ist Teil des gesamten organisationalen Aufarbeitungsprozesses, welcher sich an eine Fallbearbeitung anschließt.

Wichtig: Ein abgeschlossenes Interventionsverfahren sowie eine transparente und fachlich angemessene Abklärung des Verdachts sind für den Start eines Rehabilitationsprozesses unerlässliche Voraussetzungen. Es findet lediglich Anwendung, wenn im Rahmen des Interventions- und Klärungsprozesses nachgewiesen werden kann, dass sich der Verdacht gegenüber dem*der angeschuldigten Mitarbeiter*in zweifelsfrei als unbegründet herausgestellt hat.

Der Rehabilitationsprozess mit unterschiedlichen Akteur*innen der Organisation

Fälle sexualisierter Gewalt sind individuell und bedürfen daher auch einer individuellen Bearbeitung. Die im Folgenden skizzierten Handlungsschritte sind darum nicht als Schema zu betrachten, welches in jedem Fall so berücksichtigt werden muss. Sie dienen vor allem der Orientierung und zeigen auf, welche Ebenen innerhalb des Rehabilitationsprozesses bezogen auf falsch beschuldigte Mitarbeiter*innen berücksichtigt werden müssen.

Bei einem anstehenden Rehabilitationsverfahren übernimmt die Leitung die Koordination. Je nach Konstellation wird die Personalabteilung sowie die Mitarbeiter*innenvertretung hinzugezogen. Um Fachlichkeit zu gewährleisten, empfiehlt sich vor allem die Hinzunahme von externer Prozessbegleitung (z.B. Supervision).

Der Rehabilitationsprozess mit der falsch beschuldigten Person

Bezogen auf die falsch beschuldigte Person müssen zwei Aspekte bedacht werden: die (arbeitsrechtlichen) Formalia sowie die persönliche Aufarbeitung. Folgende Schritte können dabei relevant sein.

(Arbeits-)Rechtliche Aspekte:

  • Sind (vorübergehende) arbeitsrechtliche Maßnahmen wie Freistellung, Suspendierung, Beurlaubung etc. erfolgt und können diese aufgehoben werden?
  • Existieren, bezogen auf den Fall, Einträge in der Personalakte und können diese gelöscht werden?
  • Sind bei der falsch beschuldigten Person Kosten entstanden, die durch Arbeitgeber*innen erstattet werden müssen (z.B. durch Straf- oder Arbeitsrechtsverfolgung)?
  • Bestehen Ansprüche auf Entschädigung oder Schadensersatz (z.B. durch Lohnausfall)?
  • Benötigt die falsch beschuldigte Person rechtlichen Beistand?

Für Arbeitgeber*innen ist es an dieser Stelle empfehlenswert arbeitsrechtliche Beratung und Vertretung hinzuzuziehen.  

Persönliche Aufarbeitung:

Zwischen einem Anfangsverdacht und der zweifelsfreien Feststellung, dass der Verdacht unbegründet war, vergeht unter Umständen einige Zeit, in der die falsch angeschuldigte Person mitunter hohem psychischem Druck ausgesetzt ist. Insbesondere für Pädagog*innen ergeben sich neben den Fragen der zivil- und strafrechtlichen Verfolgung vor allem auch Zukunftssorgen, inwiefern sie ihren Beruf weiter ausüben können.

Um die Person auf emotional-psychischer Ebene zu entlasten und um eine Wiederaufnahme der Tätigkeit zu ermöglichen, ist deshalb die Unterstützung durch Supervision oder psychologische Beratung zu empfehlen. Arbeitgeber*innen sollten auch an dieser Stelle prüfen, inwiefern sie Mitarbeiter*innen, ggf. auch finanziell, unterstützen können.

  • Welche psychischen Belastungen sind entstanden? Welche Entlastungsstrategien können gefunden werden?
  • Welche Sorgen/Ängste haben sich (in Bezug auf das Fortsetzen der Tätigkeit) entwickelt?
  • Welche Folgen hat der Vorfall für die pädagogische Tätigkeit insgesamt?
  • Wie geht die Person zukünftig in Nähe-Verhältnisse mit Kindern und Jugendlichen?

Die Reintegration in die Organisation und pädagogische Tätigkeit ist das Ziel. Je nach Fall und Dynamik innerhalb der Organisation variiert die Wahrscheinlichkeit, dass dies überhaupt möglich oder gewünscht ist. Falls eine Wiedereingliederung (aufgrund unterschiedlicher Faktoren) nicht möglich ist, müssen Arbeitgeber*innen prüfen, inwiefern sie die falsch angeschuldigte Person anderweitig unterstützen (z.B. durch das Angebot eines Einrichtungswechsels, Unterstützung bei der Bewerbung etc.).

Der Rehabilitationsprozess mit dem Team und den direkten Kolleg*innen

Damit die Rehabilitation einer falsch beschuldigten Person gelingen kann, muss insbesondere die Ebene der direkten Kolleg*innen beziehungsweise des Gesamtteams mitgedacht werden.

Die Leitfrage für das Team lautet: Was ist notwendig, damit zur falsch beschuldigten Person wieder Vertrauen hinsichtlich ihrer pädagogischen Professionalität gefasst werden kann? Das Team muss ausreichend Zeit und Raum einplanen, um daran zu arbeiten.

Verbunden mit dem Verdachtsfall sexualisierter Gewalt sind im gesamten Team der Organisation ebenfalls Belastungen und Emotionen entstanden, die bearbeitet werden müssen. Das Risiko der Team-Spaltung ist in solch einem Fall sehr groß, da die Mitglieder in der Regel unterschiedliche Perspektiven sowohl auf den Fall selbst als auch auf die falsch angeschuldigte Person haben. 

Es ist hilfreich, wenn die Leitung gegenüber dem Team den gesamten Fall noch einmal transparent rekonstruiert und chronologisch aufzeigt, durch welche Schritte und Maßnahmen zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass es sich um eine Falschbeschuldigung handelt.  Die professionelle Klärung von Verdachtsfällen und die transparente Weitergabe von Informationen zum Geschehen erhöht die Chance im Team, dass das Vertrauen in die pädagogische Professionalität der falsch beschuldigten Person wieder wachsen kann.

Im Rahmen der weiteren Bearbeitung braucht es Raum für die Sorgen, Ängste, Wut oder andere Emotionen, die durch die Situation bei den einzelnen Mitarbeitenden entstanden sind. Externe Moderation sowie supervisorische Begleitung sind auch an dieser Stelle besonders empfehlenswert. Je nach Fall und Konstellation sind möglicherweise sogar mehrere Sitzungen notwendig, um dem Team den Raum zu geben, den es braucht.

Die Rehabilitation einer falsch beschuldigten Person ist ein Prozess, der vor allem auf der kognitiv-emotionalen Ebene der Beteiligten stattfindet. Dabei kann zum Beispiel Folgendes erörtert werden:

  • Aus persönlicher Sicht: Was benötigt das Team, um Vertrauen herzustellen oder wiederaufzubauen?
  • Aus fachlicher Sicht: In welche Situationen könnte die zu Unrecht beschuldigte Person zukünftig kommen, in denen der Verdacht eine Rolle spielt? Wie kann das Team damit umgehen?
  • Wechsel der Perspektive: Was wünscht sich ein*e Mitarbeiter*in, die unbegründet in den Verdacht der Gewaltausübung geraten ist?
  • Welche Konsequenzen für die pädagogische Praxis zieht das Team aus diesem Fall? Muss das Rechte- und Schutzkonzept überarbeitet werden (z.B. durch die Erweiterung der geltenden Verhaltensleitlinien)?

An dieser Stelle ist noch einmal zu prüfen, ob es einzelne Mitarbeiter*innen gibt, die gesonderte Gespräche benötigen (z. B. weil sie eine tragende Rolle bei der Intervention innehatten oder sie nachhaltig belastet sind). Dieses Angebot sollte ebenfalls aktiv durch die Leitung kommuniziert werden.

Es ist abzuwägen, inwiefern die Erarbeitungen gemeinsam oder zunächst getrennt zwischen Team und falsch angeschuldigter Person erfolgen. Im weiteren Verlauf kann es hilfreich sein, wenn es gemeinsame Gespräche gibt, in denen z.B. gegenseitige Erwartungen formuliert sowie Vereinbarungen an und für die weitere Zusammenarbeit getroffen werden.

Inwiefern eine Rehabilitation innerhalb der Gesamtorganisation notwendig ist, muss geprüft werden. Hierbei sind insbesondere die Persönlichkeitsrechte sowie der Datenschutz der falsch beschuldigten Person zu wahren.

Der Rehabilitationsprozess auf Team-Ebene sowie die (fachliche) Aufarbeitung des Falls sind für den zukünftigen Umgang mit Verdachtsfällen von (sexualisierter) Gewalt sehr wichtig. Sollten Ängste bei Mitarbeitenden verbleiben, besteht das Risiko, dass sie anlässlich eines weiteren Verdachts aus Unsicherheit untätig bleiben.

Der Rehabilitationsprozess mit Kindern und Jugendlichen

Je nach Fall sind auch die Kinder und Jugendlichen der Einrichtung über den Fall informiert. Dabei kann ihr Informationsstand unterschiedlich konkret und umfangreich sein. In jedem Fall bekommen Kinder und Jugendliche mit, dass ein Klärungsprozess innerhalb der Einrichtung läuft, weil sie z.B. merken, dass die Erwachsenen in Aufregung sind oder dass ein*e Mitarbeiter*in nicht mehr da ist. Ist die Situation geklärt und der Verdacht zweifelsfrei ausgeräumt, müssen Maßnahmen der Rehabilitation auch auf dieser Ebene erfolgen. Diese können zum Beispiel (je nach Einrichtung und Handlungsfeld) verschiedene Gesprächsformate beinhalten:

  • Eine zielgruppengerechte Kommunikation: Über den Fall, unter Berücksichtigung des Alters- und Entwicklungsstandes der jungen Menschen sowie ihres Kenntnisstandes. Die Hinzunahme externer Beratung bezüglich der zu treffenden Wortwahl und der geteilten Inhalte empfiehlt sich hier.
  • Raum für Gedanken und Emotionen der Kinder und Jugendlichen schaffen: Gibt es Ängste, Sorgen oder Unsicherheiten in Bezug auf den Fall?
  • Wechsel der Perspektive: Wurden Kinder und Jugendliche schon einmal für etwas beschuldigt, das sie nicht getan haben? Was haben sie sich gewünscht, wie die anderen damit umgehen?
  • Gesprächsangebote machen: Die Erwachsenen machen Angebote zu Einzelgesprächen, um über Inhalte zu sprechen, die Kinder und Jugendliche nicht in der Gruppe teilen möchten.

Der Umgang mit falsch beschuldigenden Personen

An dieser Stelle muss grundsätzlich differenziert werden zwischen dem Umgang mit Erwachsenen/Fachkräften und dem Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die falsche Anschuldigungen tätigen.

Fachkräfte

Unbegründete Verdachtsmomente in Fällen von (sexualisierter) Gewalt kommen aus unterschiedlichen Gründen zu Stande, nicht nur durch bewusst falsche Anschuldigungen, wie es häufig  angenommen wird. Wenn ein falscher Verdacht entstanden ist, in dessen Rahmen zum Beispiel (im Rahmen des Interventionsprozesses) Kommunikation unzureichend gewesen ist oder Schritte zur Klärung nicht eingehalten wurden, ist der Fall fachlich zu reflektieren und aufzuarbeiten.

Hierbei steht die Frage im Vordergrund: Durch welche Umstände/Konstellationen ist es dazu gekommen, dass Mitarbeiter*in XY fälschlich im Verdacht stand, sexualisierte Gewalt ausgeübt zu haben?

Wie bereits oben beschrieben, sind Maßnahmen im Rehabilitationsprozess bezogen auf das Team zu unternehmen. Im Besonderen ist dann noch einmal zu prüfen, inwiefern es Personen im Prozess gab, die maßgeblich am Zustandekommen der Falschanschuldigung beteiligt waren. Für den Rehabilitationsprozess ist es wichtig, dass sie in die Verantwortung genommen werden:

  • Welche Erklärung haben sie für das Zustandekommen der Falschbeschuldigung?
  • Muss die Übernahme von Verantwortung teamintern kommuniziert werden?
  • Muss eine Entschuldigung (auch schriftlich) erfolgen?
  • Ist weitergehend eine Mediation o.Ä. für die Zusammenarbeit zwischen falsch beschuldigender und falsch angeschuldigter Person erforderlich?

Gleiches gilt für Personen, die bewusst falsche Anschuldigungen tätigen, um die andere Person zu schädigen. In diesem Fall sind darüber hinaus straf- und arbeitsrechtliche Maßnahmen möglich.

Kinder und Jugendliche

Auch Falschanschuldigungen unter Kindern und Jugendlichen können aus unterschiedlichen Gründen entstehen. Es ist daher zunächst zu erörtern, wie es zu den falschen Anschuldigungen gekommen ist. Je nach Alter und Entwicklungsstand muss der Fall mit ihnen aufgearbeitet werden und müssen sie ebenso in die Verantwortung genommen werden:

  • Welche Hintergründe hat die Falschanschuldigung/Gab es eine bestimmte Motivation?
  • Ist eine (schriftliche) Entschuldigung aus pädagogischer Sicht sinnvoll? Müssen sie dabei unterstützt werden?

Für Kinder und Jugendliche, die Mitarbeitende falsch beschuldigen, besteht weiterhin grundsätzlich eine pädagogische Verpflichtung und je nach Fall muss erörtert werden, welche weiteren Maßnahmen erforderlich sind, damit eine pädagogisch angemessene Beziehungsgestaltung wieder möglich wird.

Zusätzlich zu diesen Maßnahmen empfiehlt es sich, Kinder und Jugendliche, die falsche Beschuldigungen geäußert haben, an spezialisierte Fachberatungsstellen oder Kinder- und Jugendtherapeut*innen anzubinden. Es ist zum Beispiel möglich, dass diese Kinder/Jugendlichen (sexualisierte) Gewalt erlebt haben – nur eben nicht durch die Person, die sie beschuldigt haben. Daher ist dem Schritt der Aufklärung der Hintergründe/Motivation noch einmal besondere Sorgfalt zu zuzuschreiben.

 Je nach Fall muss geprüft werden, inwiefern Eltern und Sorgeverantwortliche im Rehabilitationsprozess berücksichtigt werden müssen. Das größtmögliche Maß an Transparenz zur Wiederherstellung von Vertrauen in die Organisation steht an dieser Stelle im Spannungsfeld mit Datenschutz und Persönlichkeitsrechten. Eine sorgsame Abwägung von geeigneten Maßnahmen ist auch auf dieser Ebene notwendig.

Dokumentation und weitere Aufarbeitung

Für den gesamten Rehabilitationsprozess ist eine umfassende Dokumentation durchzuführen, welche an die des Interventionsverfahrens anschließt. So sollten zum Beispiel getroffene Entscheidungen, Ergebnisse der Gesprächsrunden (insbesondere Vereinbarungen und Erwartungen für die zukünftige Zusammenarbeit) und Ideen für Veränderungen chronologisch erfasst werden.

Für Organisationen besteht unter Umständen Bedarf nach weiteren Maßnahmen nach innen und außen. Zum Beispiel kann es notwendig sein, dass eine Rehabilitation der Einrichtung oder Gesamtorganisation in der Öffentlichkeit notwendig ist. Hierfür sind weitere Schritte, insbesondere der Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation, im Rahmen des Aufarbeitungsprozesses notwendig. Intern liefern sowohl das Interventions- als auch ein nachfolgendes Rehabilitationsverfahren möglicherweise nochmal wichtige Erkenntnisse in Bezug auf das Rechte- und Schutzkonzept. An welchen Stellen haben Strukturen nicht ineinandergegriffen oder waren diese für den Klärungsprozess hinderlich? Haben Arbeitsweisen, Konzepte oder Regelungen den Falschverdacht begünstigt? Somit können die Prozesse auch genutzt werden, um gegebenenfalls das Rechte- und Schutzkonzept anzupassen.

Das Rehabilitationsverfahren im Rechte- und Schutzkonzept 

Eine umfassende und am Betroffenenwohl orientierte Bearbeitung der Vorfälle von sexualisierter Gewalt ist auf organisationale Kapazitäten angewiesen. Im Rahmen von Intervention empfiehlt es sich einen Leitfaden zu erstellen, der festlegt, wie diese Kapazitäten (im Sinne der Fallbearbeitung) bestmöglich eingesetzt werden (siehe auch den Baustein „Intervention“). Insofern hat der Interventionsplan präventiven Charakter, weil er eine Organisation auf eine mögliche Krisensituation vorbereitet und den Beteiligten Handlungssicherheit geben kann.

Gleiches gilt für die Festschreibung eines möglichen Rehabilitationsverfahrens im Rechte- und Schutzkonzept, auch wenn das Gelingen eines solchen Rehabilitationsprozesses nicht garantiert werden kann. Es wird sichergestellt, dass Ressourcen eingeplant werden, um sowohl die institutionelle Wiedereingliederung als auch die Wiederherstellung der Reputation einer Person zu ermöglichen, deren Falschbeschuldigung im Rahmen der Verdachtsabklärung zweifelsfrei festgestellt werden konnte.

An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei Verdachtsmomenten immer um individuelle Fälle handelt, die im Vorfeld schematisch nicht festgeschrieben werden können. Im Rechte- und Schutzkonzepte ist es daher auch nicht sinnvoll, einen umfassenden Rehabilitationsprozess unter Einbezug aller Ebenen zu beschreiben. Entscheidend ist in erster Linie die konzeptionelle Sicherstellung des Ressourceneinsatzes, die ein fachgerechter Rehabilitationsprozess benötigt.

Die Festschreibung eines solchen Rehabilitationsprozesses vermittelt die Sicherheit gegenüber Mitarbeitenden, dass die Organisation Verdächtigungen, die sich als fälschlich herausgestellt haben, ernst nimmt und im Sinne der Fürsorgepflicht weiterbearbeitet. Dadurch kann ein solches Verfahren dazu beitragen, dass Widerstände gegenüber dem Schutzprozess insgesamt abgebaut werden. Daher ist die breite Informationsweitergabe in die Organisation empfehlenswert und kann zum Beispiel bereits bei Neueinstellung thematisiert werden oder im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung vorgestellt werden.

Andererseits, und das ist im Sinne des Kinderschutzes nochmal besonders hervorzuheben, hat ein Rehabilitationsverfahren auch eine Signalwirkung auf Kinder und Jugendliche. Durch personenunabhängige und standardisierte Interventionsverfahren erleben Kinder und Jugendliche, dass Verdachtsmomente und Anschuldigungen von den Erwachsenen unvoreingenommen bearbeitet werden. Wenn sich darauffolgend ein Verdacht als unbegründet herausstellt und ein Rehabilitationsverfahren folgt, in dem die Perspektive von jungen Menschen weiterhin eine Rolle spielt, stellt dies nicht nur eine Wirksamkeitserfahrung dar. Es vermittelt Kindern und Jugendlichen gleichsam, dass auch unbegründete Fälle sexualisierter Gewalt nicht „unter den Teppich gekehrt“, sondern sorgfältig aufgearbeitet werden. Somit können auch Rehabilitationsverfahren dazu beitragen, dass eine Organisation zu einem verlässlichen und sicheren Ort für Kinder und Jugendliche wird. 

Hinweis

In der Praxis zeigen sich häufig Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt, die sich nicht restlos aufklären lassen. In derartigen Fallkonstellationen ist die Einleitung eines Rehabilitationsverfahren nicht gegeben, da, die zweifelsfreie Ausräumung eines Verdachtes die notwendige Voraussetzung dafür ist. Verantwortliche müssen in solchen Fällen Überlegungen anstellen, wie es in dieser Situation weitergehen kann. Auch wenn gegenüber Mitarbeiter*innen unter Verdacht weiterhin Pflichten des Arbeitgebers bestehen, bleibt ebenso die Schutzverantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen bestehen. Der Schutz von jungen Menschen hat dabei immer Priorität. Zu diesem Thema empfehlen wir folgende Publikation, zum kostenlosen Download erhältlich: Kavemann, Barbara, Rothkegel, Sibylle, Nagel, Bianca: Nicht aufklärbare Verdachtsfälle bei sexuellen Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiter*innen in Institutionen. Nicht 100 Prozent Sicherheit, aber 100 Prozent Professionalität, Berlin 2015, 81 Seiten.

Weiterlesen

Familienglück auf Social Media? Kinder haben ein Recht auf Wahrung ihrer Privatsphäre!


Zurück zur Kampagnenseite

Eltern sind stolz auf ihre Kinder und möchten das am liebsten der ganzen Welt mitteilen.

Sie erleben schöne, lustige oder erstaunliche Momente mit ihren Kindern. Immer wieder sind sie fasziniert, wie toll sich ihr Nachwuchs entwickelt, und haben das Bedürfnis, ihr Glück mit anderen zu teilen. Das ist verständlich!

Aber: Kinder haben ein Recht auf die Wahrung ihrer Privatsphäre – auch im digitalen Raum.

Eltern, die bedenkenlos Bilder oder Videos ihrer Kinder bei Instagram, im WhatsApp-Status usw. veröffentlichen, verletzen den persönlichen Intimbereich des Kindes.

Öffentliche oder halb-öffentliche Social-Media-Plattformen sind nicht der richtige Ort dafür. Das Risiko von Datenmissbrauch ist zu hoch.

Ein Kind kann nicht darüber entscheiden, ob es auf dem Töpfchen, in der Badewanne oder bei Ärzt*innen gezeigt werden will. Und selbst wenn es nichts dagegen hat, so hat es keine Vorstellung von der Reichweite und möglichen Reaktionen im digitalen Raum.

Auch rein rechtlich gesehen gibt es Einschränkungen für Sorgeberechtigte, die Kinder-Aufnahmen posten wollen:  

Kinder ab sieben Jahren können ein Mitspracherecht bei der Veröffentlichung von Aufnahmen haben (sog. Doppelzuständigkeit), wenn sie die nötige Einsichtsfähigkeit aufweisen.

Ab 14 Jahren entscheiden Heranwachsende mit den Erziehungsberechtigen gemeinsam.[1]

Eltern haben außerdem eine Vorbildrolle: Wenn Kindern vorgelebt wird, dass nicht-einvernehmliches Veröffentlichen von Aufnahmen und Gezeigt-werden „normal“ ist, gewöhnen sie sich an derlei Grenzverletzungen.

Das kann dazu führen, dass sie später ebenso nicht-einvernehmlich mit privaten Aufnahmen anderer umgehen.

Insbesondere bei öffentlich zugänglichen Profilen wird das Schutzrecht von Kindern übergangen. Eltern und Erziehungsverantwortliche sollten wissen, dass auch harmlose Schnappschüsse oder selbst erstellte Videos von Kindern durch Pädokriminelle missbraucht werden können. Es gibt einschlägige Plattformen oder Börsen, wo solche Kinderbilder als sogenannte „Non-Nudes“ (= nicht nackt) kursieren.

Was Eltern und Erziehende tun können

  • Einstellungen überprüfen: Handelt es sich um öffentliche Social-Media-Profile, können deren Inhalte von jeder x-beliebigen Person gesehen, geteilt, gespeichert oder über Suchmaschinen gefunden werden. Daher sollten Sie die Einstellung „Privates Konto“ (oder vergleichbar) wählen und bestenfalls Inhalte nur mit persönlich bekannten Personen teilen.[2]

  • Vorbildrolle wahrnehmen: Gehen Sie verantwortungsvoll mit Kinderfotos und -videos um. Hinterfragen Sie beispielsweise, ob ein bestimmtes Bild dem Klein- oder Vorschulkind peinlich sein könnte. Könnte es sich vorgeführt oder gar bloßgestellt fühlen? In diesem Fall verzichten Sie vielleicht besser auf das Posten.

  • Notwendigkeit hinterfragen: Sind Aufnahmen in der jeweiligen Situation wirklich nötig? Je nach Alter des Kindes können Sie sie auch fragen, bevor Sie überhaupt fotografieren.

  • Eigene Motive überprüfen – Rechte von Kindern aktiv wahrnehmen: Hinterfragen Sie vor dem Posten noch einmal Ihre Beweggründe für die Verbreitung des Bildes und die dahinterstehende Haltung. Stehen die Rechte des Kindes an erster Stelle?

  • Ältere Kinder miteinbeziehen: Spätestens ab dem Grundschulalter sollten Sie mit dem Kind ins Gespräch gehen: Darf ich dieses Bild oder Video posten? Wäre es für dich in Ordnung, wenn xy dieses Bild/Video sieht? Wenn das Kind mit „Nein“ antwortet, bedeutet das, auf das Teilen zu verzichten.

  • Sensibel mit dem Bildmaterial umgehen: Achten Sie beim Speichern, Weiterleiten etc. auf den Datenschutz.

Mehr Tipps und Infos hat z.B. das Deutsche Kinderhilfswerk (DKHW) zusammengestellt:

DKHW: Sechs Tipps für den Umgang mit Kinderfotos

DKHW/5 Rights Foundation: Kinderrechte in der digitalen Welt

Kindersache.de: Dein Kinderrechte-Video: Privatsphäre und Beteiligung

Kindersache.de: Wenn Eltern Bilder von ihren Kindern posten

Medien-kindersicher.de: Technische Schutzlösungen für Geräte

[1] Die AJS NRW hat zu den rechtlichen Aspekten ein Merkblatt herausgebracht.

[2] Praktische Unterstützung gibt es auf medien-kindersicher.de.

Weiterlesen

Vom Sprechen und Zuhören – Junge Menschen haben das Recht ernst genommen zu werden


Zurück zur Kampagnenseite

Kinder und Jugendliche sind in der Gestaltung ihres Lebens und ihres Alltags von Erwachsenen abhängig. Dies liegt an ihrem Alter, ihrem Entwicklungsstand und ihrem rechtlichen Status als Minderjährige. Ob es nun darum geht, die familiäre Freizeit zu planen, Angebote in Kindertageseinrichtung oder Jugendzentrum auszuwählen oder die Klassenregeln festzulegen: Junge Menschen erleben häufig, dass die Erwachsenen die Entscheidungsmacht besitzen.

Fakt ist aber, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf Selbstbestimmung und die Mitgestaltung ihrer Lebenswelten haben.

Das bedeutet zum einen: Sie sind als Expert*innen ihrer Lebenswelten wahrzunehmen. Denn junge Menschen können sehr genau sagen, was ihre Bedürfnisse sind, was sie sich wünschen und was sie stört. Zum anderen bedeutet es auch, dass sie bei allen Entscheidungen, die sie direkt betreffen, die Möglichkeit erhalten müssen, Einfluss zu nehmen.

Eltern, Pädagog*innen und Politiker*innen sind hier in der Verantwortung. Denn das Recht auf Beteiligung bedeutet für Erwachsene die Pflicht, Kindern und Jugendlichen zuzuhören, sie ernst zu nehmen, ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen und ihnen die Möglichkeit der Einflussnahme einzuräumen. Kurzum: Es bedeutet, Macht an junge Menschen zu übertragen.

Für den Schutz vor sexualisierter Gewalt ist die Umsetzung dieses Kinderrechts ein elementarer Bestandteil. Kinder und Jugendliche werden dadurch ermutigt, ihre Anliegen selbst zu vertreten. Sie erfahren Selbstwirksamkeit und lernen, dass Erwachsene nicht immer automatisch im Recht sind, nur weil sie erwachsen sind.

Mündige und selbstbewusste junge Menschen haben eine starke Position innerhalb der Familie oder Institution, in der sie sich bewegen. Sie entwickeln klare Vorstellungen von ihren eigenen Bedürfnissen und können sich somit somit stärker von dem abgrenzen, was sie nicht wollen. Durch Erwachsene, die ihre Äußerungen und Grenzsetzungen ernst nehmen, werden sie darin bestärkt, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Insbesondere durch einen fairen und lösungsorientierten Umgang mit Beschwerden wird jungen Menschen ihr Selbstwirksamkeitspotential deutlich. 

Damit also Kinder und Jugendliche ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie eine Stimme haben, braucht es Erwachsene, welche sie auch hören. Bei Entscheidungen der Erwachsenen, die junge Menschen direkt betreffen, lohnt es sich somit zu überprüfen, wie ihre Stimme in ausreichendem Maße mit einbezogen werden kann. Eine Kultur des Ernst-Nehmens, Hinsehens und Zuhörens ist nicht nur für die Achtung der höchstpersönlichen Rechte junger Menschen unerlässlich. Sie erhöht auch die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder und Jugendliche sich einer erwachsenen Person anvertrauen, wenn sie sexualisierte Gewalt erlebt haben.

Für pädagogische Einrichtungen gilt es, bedarfsgerechte Beteiligung im Rechte- und Schutzkonzept sicherzustellen (siehe Baustein 5 der Unterseite zu Rechte- und Schutzkonzepten der PsG.nrw: https://psg.nrw/baustein-5-kinder-und-jugendliche/).

Weiterlesen

Kinder und Jugendliche brauchen Freiräume ohne Kontrolle – und haben ein Recht darauf!


Zurück zur Kampagnenseite

Zu den Kinderrechten gehört das Recht auf Freiräume und Entwicklungsmöglichkeiten genauso wie das Recht auf Privatsphäre und auf Lebensbereiche, die nicht von Erwachsenen kontrolliert werden. Das Recht auf Freiräume und Privatsphäre für Kinder ist auch in der UN-Kinderrechtskonvention impliziert.[1]

Dies bedeutet, dass Kinder und Jugendliche das Recht haben, Zeit zum Spielen und Entspannen zu haben, sich kulturellen, sportlichen und/oder künstlerischen Aktivitäten zu widmen, sich mit Freund*innen zu treffen und ihre Interessen zu verfolgen. Natürlich immer unter der Prämisse, dass diese Aktivitäten alters- und entwicklungsgerecht sind.

Das Recht auf solche Freiräume ist wichtig für die Entwicklung von jungen Menschen, um ihre eigene Identität auszubilden und ihre Persönlichkeit zu entfalten. Dadurch lernen und üben sie, Verantwortung zu übernehmen, und erleben Selbstwirksamkeit. Das ist auch notwendig, um ein Gefühl für die eigenen Grenzen zu bekommen, diese auszuloten und zu artikulieren.

Freiräume bedeutet auch: Räume, die – dem jeweiligen Alters- und Entwicklungsstand entsprechend – frei von Kontrolle sind. Die den Kindern und Jugendlichen Selbstständigkeit zugestehen und die für die Erwachsenen bedeuten, zu vertrauen und ein Stück weit loszulassen. Es gibt also ein Spannungsfeld zwischen Schutz und dem Gewähren von Freiräumen.

Unser Motiv

Um Kindern ein möglichst geschütztes Erkunden der Umwelt ohne Eltern zu ermöglichen, greifen viele Erwachsene auf die Nutzung von GPS-Geräten zurück. Die Kontrolle von Kindern durch GPS-Tracking ist jedoch in vielerlei Hinsicht kritisch.

Die elterliche Kontrolle durch das Tracking kann Kindern Minderwertigkeitsgefühle vermitteln und die Botschaft transportieren, dass ihnen nicht zugetraut werde, sich alleine in der Welt zu bewegen.

Sowohl Eltern als auch Kindern wird außerdem ein falsches Sicherheitsgefühl vermittelt, weil im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt das Tracking nicht schützt. Selten findet diese nämlich durch Fremdtäter*innen statt (hier mehr dazu).

Das GPS-Gerät vermittelt Eltern zudem zwar, wo sich das Gerät befindet, nicht aber zwangsläufig, wo sich das Kind aufhält.

Einer der zentralen Präventionsgrundsätze lautet: „Vertraue deinem Gefühl!“ Durch GPS-Tracking wird dieses Vertrauen stillgelegt und auf die Technik übertragen.

Für ein gesundes Aufwachsen ist keine Kontrolle, sondern sind Freiräume und Vertrauen seitens der Erwachsenen vonnöten.

Erwachsene haben die Aufgabe und Verantwortung, die Freiheit von Kindern und Jugendlichen anzuerkennen und die Möglichkeiten zu schaffen, Freiräume zu nutzen.

Tipps für Fachkräfte und für Eltern

Freiräume zu schaffen und zu gewähren ist nicht immer leicht – vor allem, weil wir uns als Erwachsene Sorgen um den Schutz von Kindern und Jugendlichen machen.

Es kann hilfreich sein, Sorgen und Ängste den Kindern und Jugendlichen gegenüber deutlich zu machen und gemeinsam mit ihnen Regelungen zu finden, mit denen sich alle Beteiligten wohlfühlen. Besonders wenn es um Aushandlungsprozesse aufgrund des zunehmenden Alters der Kinder bzw. Jugendlichen geht, kommt es häufig zu Konflikten zwischen Eltern/Erziehungsberechtigten und ihren Kindern. Wenig hilfreich sind dann einfach Verbote.

Es sollten Lösungen gefunden werden, die beiden Parteien entgegenkommen. Das kann zum Beispiel die Vereinbarung sein, dass Kinder ihre Eltern informieren, wenn sie mit ihren Freund*innen spontan den Ort wechseln.

Unbedingt notwendig ist es, dass Kinder und Jugendliche wissen, dass sie sich immer an ihre Eltern/Erziehungsberechtigten wenden können, wenn ihnen etwas Unangenehmes oder Übergriffiges passiert ist – auch, wenn sie Regelungen umgangen oder nicht eingehalten haben. Dann darf es nicht um Bestrafung gehen, sondern dann müssen Unterstützung und Hilfestellung an erster Stelle stehen.

[1] Siehe dazu etwa Artikel 12 zur Berücksichtigung des Kindeswillens, Artikel 16 zum Schutz der Privatsphäre und der Ehre oder Artikel 31 zur Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben, staatlicher Förderung.

Weiterlesen

Baustein 2: Risiko- und Potentialanalyse


Zurück zur Übersicht

Die Risiko- und Potentialanalyse steht zu Beginn der Entwicklung des Rechte- und Schutzkonzeptes, sie ist fester Bestandteil davon. Sie beschreibt die sorgfältige und systematische Untersuchung aller Bereiche der Organisation, wie z.B. Räumlichkeiten, Personalverantwortlichkeiten, Konzepte oder die Teilhabe an und Zugänglichkeit von Informationen. Ziel ist es, die ‚verletzlichen‘ Stellen in der Einrichtung oder dem Angebot aufzudecken, mit weiteren Maßnahmen des Schutzkonzeptes darauf zu reagieren und die Risiken zu minimieren.

Die Analyse sollte als partizipativer Prozess der Organisationsentwicklung durchgeführt werden. Kinder und Jugendliche als Expert*innen ihrer Lebenswelt müssen die Möglichkeit haben, ihre Sorgen und Ängste beizutragen, die Orte zu benennen, an denen sie sich unwohl fühlen, Wünsche für Veränderungen und Weiterentwicklungen zu äußern etc.

Sie verfolgt systematisch zwei Fragen:

  • Welche Bedingungen könnten Täter*innen bei uns nutzen, um sexualisierte Gewalt vorzubereiten und auszuüben?
  • Welche Ressourcen sind zum Schutz der Kinder und Jugendlichen bereits vorhanden?

Im vorigen Teil haben wir die Choice-, Voice- und Exit-Optionen erläutert. Hier gilt es nun zu klären: An welchen Stellen sind diese Optionen kaum oder gar nicht vorhanden? Haben Organisationen Schwachstellen bei der Gewährleistung dieser höchstpersönlichen Rechte? Schlüsselfragen sind:[1]

  • Gibt es im Alltag bestimmte Gelegenheiten, bei denen es im Kontakt zu Problemen von Nähe und Distanz kommen kann?
  • Gibt es mit Blick auf bestimmte professionelle Tätigkeiten oder Interaktionen die Möglichkeit / das Risiko von Machtmissbrauch, Grenzüberschreitungen oder Übergriffen?
  • Gibt es im Alltag mögliche Schlüsselsituationen, in denen die Rechte von Kindern und Jugendlichen nicht geachtet werden oder in denen ihre Achtung in Gefahr ist?

Die Beantwortung dieser Fragen gilt es auch für den Umgang mit digitalen Medien zu klären. Auch hier sind mögliche Schwachstellen zu identifizieren.

Eine Risiko- und Potentialanalyse führt immer zu Konsequenzen in Form von Maßnahmen für die Einrichtung, die dann im weiteren Prozess der Schutzkonzeptentwicklung umgesetzt werden. Es geht um die langfristige Veränderung von Organisationen und darum, Reflexionsprozesse anzuschieben: Die lernende Organisation ist ein Qualitätskriterium für Rechte- und Schutzkonzepte.

In der Broschüre der Evangelischen Kirche im Rheinland (Hrsg.): „Schutzkonzepte Praktisch 2021. Ein Handlungsleitfaden zur Erstellung von Schutzkonzepten in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen zur Prävention sexualisierter Gewalt“ finden Sie beispielhaft ganz konkrete Fragestellungen für einzelne Organisationen, hier zu den folgenden Komplexen[2]:

  • Gemeinde
  • Räumlichkeiten
  • Personalverantwortung / Strukturen
  • Konzept
  • Zugänglichkeit der Informationen
  • andere Risiken

Die Fragen lauten etwa:

  • Räumliche Gegebenheiten / Innenbereich:
    • Gibt es abgelegene, nicht einsehbare Bereiche (auch Keller und Dachböden)?
    • Gibt es Räumlichkeiten, in die sich die Nutzer*innen bewusst zurückziehen können?
    • Werden die oben genannten Räume zwischendurch „kontrolliert“?
  • Personalverantwortung / Strukturen
    • Gibt es ein Leitbild zum Schutz vor sexualisierter Gewalt?
    • Haben wir ein Schutzkonzept?
    • Wird das Thema Prävention in Bewerbungsverfahren aufgegriffen?
    • Werden Verantwortliche / Mitarbeitende regelmäßig fortgebildet?
  • Nutzung digitaler Medien / Kommunikation
    • Gibt es einen Verhaltenskodex für Chatgruppen?
    • Gibt es Ansprechpersonen bei möglichen Online-Konflikten oder Grenzverletzungen?
  • Beteiligung und Beschwerde
    • Welche (auch anonymen) Möglichkeiten haben Kinder und Jugendliche sich zu beschweren / ihre Anliegen zu äußern?
    • Werden die Kinder und Jugendlichen über alle Entscheidungen ausreichend und angemessen informiert, wenn sie nicht direkt am Entscheidungsprozess beteiligt werden (können)?
    • Welche fest verankerten Partizipationsmöglichkeiten gibt es in der Einrichtung?

[1] Vgl. Oppermann / Winter / Harder / Wolff / Schröer (Hrsg.): Lehrbuch Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen. Weinheim: Beltz 2018. S. 81.

[2] Evangelische Kirche im Rheinland (Hrsg.): Schutzkonzepte Praktisch 2021. Ein Handlungsleitfaden zur Erstellung von Schutzkonzepten in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen zur Prävention sexualisierter Gewalt. Düsseldorf 2021. S. 6 und 8.

Literatur- und Materialempfehlungen

Evangelische Kirche im Rheinland (Hrsg.): Schutzkonzepte Praktisch 2021. Ein Handlungsleitfaden zur Erstellung von Schutzkonzepten in Kirchengemeinden und Kirchenkreisen zur Prävention sexualisierter Gewalt. Düsseldorf 2021.

FIPP (Fortbildungsinstitut für die pädagogische Praxis): Institutioneller Kinderschutz: Das partizipative Schutzkonzept. Berlin 2021. Insbes. Kapitel 3 und 4.

LWL-Landesjugendämter (Hrsg.): Aufsichtsrechtliche Grundlagen – Organisationale Schutzkonzepte in betriebserlaubnispflichtigen Einrichtungen für Kinder und Jugendliche nach § 45 SGB VIII. Köln/Münster 2021.

Oppermann / Winter / Harder / Wolff / Schröer (Hrsg.): Lehrbuch Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen. Beltz: Weinheim 2018.

 Paritätisches Jugendwerk NRW (Hrsg.) und ISA (Institut für soziale Arbeit e.V., inhaltliche Ausarbeitung): Schutzkonzepte für die Kinder- und Jugendarbeit. Arbeitshilfe. Wuppertal 2021.


Weiterlesen

Baustein 3: Leitbild


Zurück zur Übersicht

Ein Leitbild kann die Werte und Prinzipien Ihrer Organisation nach außen wie nach innen kommunizieren. Dies gilt auch für die ethischen Standards der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Verankerung der Prävention sexualisierter Gewalt an zentraler Stelle im Leitbild Ihrer Organisation verdeutlicht die Wichtigkeit, die dem aktiven Schutz vor sexualisierter Gewalt zugesprochen wird. Es geht um das Selbstverständnis, dass die Organisation ein sicheres Umfeld bietet, in dem sich Kinder und Jugendliche ungestört entwickeln und lernen können. Auf der Basis der Kinderrechte geht es darum, Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenskompetenz zu stärken. Die Einhaltung der Kinderrechte und die Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist die Grundlage von Prävention!

Dabei kann es um Themen gehen wie:

  • eine Kultur der Achtsamkeit und der Grenzachtung zu etablieren (mehr dazu im Baustein 1, Gemeinsame Haltungen finden)
  • Der Weg ist das Ziel: Haltung und Reflektion, eine lernende Organisation zu sein

Das Leitbild vereint dabei allgemeine wie auch organisationsspezifische Aspekte.

Hier sind ein paar wichtige Schlagworte, die im Leitbild Platz finden können:

  • UN-Kinderrechtskonvention
  • Partizipation als Grundhaltung
  • klare Positionierung gegen (sexualisierte) Gewalt
  • schützendes Handeln
  • Balance von Selbstbestimmung und Schutz
  • Verantwortung bei den Leitungspersonen und Mitarbeitenden
  • Ressourcenorientierung und Stärkung der Autonomie junger Menschen
  • offene und positive Gesprächs- und Fehlerkultur

Außerdem sollte dort festgehalten sein, dass sich die Prävention auf den analogen wie auch den digitalen Raum bezieht.

Wichtig ist es auch, das Leitbild gender- und kultursensibel zu formulieren, um alle gleichermaßen anzusprechen und abzuholen. 

Das Leitbild sollte partizipativ weiterentwickelt werden, allen Beteiligten bekannt und veröffentlicht sein.

Das Gesamtleitbild Ihrer Organisation kann als Grundlage für das Leitbild zum Rechte- und Schutzkonzept genutzt werden. Beide sollten inhaltlich eng verzahnt sein.

Praxistipp:

Es macht Sinn, die Überlegungen zur Verankerung des Themas im Leitbild an den Anfang zu stellen. Vielleicht können Sie auf ein schon bestehendes Leitbild zurückgreifen und dies auf die genannten Fragestellungen überprüfen. Die Diskussion über das Leitbild kann gut genutzt werden, um die pädagogische Haltung im Team zu reflektieren. Am Ende des Prozesses der Konzeptentwicklung sollte das Leitbild aber dann noch einmal auf Herz und Nieren geprüft werden. Passt alles noch zu dem Entwickelten? Ist alles Wichtige enthalten?


Weiterlesen

Baustein 10: Prävention ist ein Prinzip


Zurück zur Übersicht

Ein entscheidender Grundsatz in der Prävention lautet: Prävention ist ein Prinzip, kein Projekt!

Nun, da Sie Ihr Rechte- und Schutzkonzept erstellt haben, gilt es, dieses mit Leben zu füllen und es als einen steten Prozess zu betrachten.

Ein Rechte- und Schutzkonzept hat wenig Wert, wenn es nicht umgesetzt wird:

Nach der Konzeptionsphase schließt sich die Umsetzung an, also die Integration der Ziele und Inhalte in den pädagogischen Arbeitsalltag.

  • Es braucht Alltagsbezug, das heißt, die Relevanz des Themas muss für alle Mitarbeitenden klar sein.
  • Es braucht auch Mut und Bereitschaft zur Veränderung, Lust auf einen Prozess der Teamentwicklung.
  • Es muss kulturell und strukturell nachhaltig eingebunden werden.
  • Es braucht Öffentlichkeitsarbeit, um die Maßnahmen nach innen wie nach außen zu verdeutlichen und somit auch abschreckend auf potenzielle Täter*innen zu wirken.
  • Es braucht eine stete Partizipation der Zielgruppen.
  • Es braucht eine Öffnung der Organisation; Transparent, Kooperation und Vernetzung.

Ziel ist auch, dass das Rechte- und Schutzkonzept stets den neusten Standards entspricht und aktuell ist. Alle Angaben von verantwortlichen Personen sind aktualisiert.

Um Umsetzung, Aktualität und Nachhaltigkeit Sorge zu tragen, wird das Konzept regelmäßig überprüft und z.B. mit neuen Mitarbeitenden besprochen. Die Arbeit mit dem Rechte- und Schutzkonzept muss ausgewertet, bewertet und fachgerecht beurteilt werden. Das Rechte- Schutzkonzept muss dann weiterentwickelt oder angepasst werden.

Evaluation

Um Ihr Schutzkonzept zu evaluieren, sollten Sie[1]:

  • einen Überprüfungszeitraum im Schutzkonzept verankern,
  • einen regelmäßigen Austausch zu den Erfahrungen bei der Umsetzung des Schutzkonzeptes ermöglichen,
  • die Risikoanalyse regelmäßig überprüfen und bei Bedarf wiederholen,
  • eine Auswertung von Verdachtsfällen und konkreten Fällen in der Einrichtung vornehmen,
  • eine Beschlussfassung zu notwendigen Veränderungen/Verbesserungen formulieren.

Zur regelmäßigen Überprüfung nach einigen Jahren kann folgendes Tool der Arbeitsgemeinschaft zum Schutz der Kinder vor sexueller Ausbeutung hilfreich sein: https://ecpat-schutzkonzepte.de/selbstbewertung

[1] Quelle: Paritätisches Jugendwerk NRW (Hrsg.) und ISA (Institut für soziale Arbeit e.V., inhaltliche Ausarbeitung): Schutzkonzepte für die Kinder- und Jugendarbeit. Arbeitshilfe. Wuppertal 2021, S. 38. 


Weiterlesen

Baustein 6: Sexuelle Bildung


Zurück zur Übersicht

Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf Schutz. Dieser Schutz darf aber nicht ihr Bedürfnis nach – z.B. sexuellen – Erfahrungsräumen überlagern: Die Prävention von sexualisierter Gewalt bedeutet nicht die Prävention von Sexualität. In den Präventionsbemühungen geht es darum, die positive Kraft der Sexualität zu nutzen, um Kinder und Jugendliche in ihrer Lebenskompetenz zu stärken. In diesem Sinne ist sexuelle Bildung ein Baustein von Prävention sexualisierter Gewalt und fester Bestandteil eines Schutzkonzeptes.

Kindlicher Sexualität gerecht werden

Der Mensch ist ein sexuelles Wesen, von Anfang an. Darum ist das Vorurteil auch nicht zutreffend, dass sexuelle Bildung eine „Frühreife“ nach sich ziehen kann. Sexualität ist ein Lebensthema; die sexuelle Entwicklung läuft nicht einfach als biologisches Programm ab, sondern findet im Prozess in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen statt. Dafür braucht es Schutz- und Erfahrungsräume, die ein Rechte- und Schutzkonzept gewährleisten muss.

Dabei gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen kindlicher Sexualität und erwachsener Sexualität: So kann es zwar ähnliche körperliche Reaktionen geben, wie z.B. schöne Gefühle bei Kindern, wenn sie etwa auf einem Kissen herumrutschen. Kinder schreiben den Erlebnissen aber eine völlig andere Bedeutung zu als Erwachsene, sie haben eine ganz andere Wahrnehmung von dem, was da gerade passiert. Es ist also entscheidend, nicht die eigene erwachsene Sicht auf das kindliche Verhalten zu übertragen (etwa, wenn Kinder Körpererkundungsspiele, sogenannte Doktorspiele spielen). Das ist nicht immer leicht, und auch deshalb ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, mit eigenen Werten, Normen und Erfahrungen so wichtig. Kindliche Sexualität ist spontan, neugierig, spielerisch; es geht um Geborgenheit und Kuscheln und das Körpererleben mit allen Sinnen. Sie kann im selbstbezogenen Spielen, durch Erkundungs- und Rollenspiele ausgelebt und erprobt werden; das eigene Handeln wird nicht bewusst als sexuell wahrgenommen. Dieses Thema können Sie im hier verlinken Interview „Nur wer Bescheid weiß, kann auch Bescheid sagen“ aus dem AJS Forum 3/21 vertiefen.

Kinderrechte vereinbaren

Der Schutz vor sexualisierter Gewalt muss Hand in Hand gehen mit der Gewährleistung weiterer Kinderrechte, nämlich dem auf Befähigung, Partizipation und Information und im Jugendalter auch dem selbstbestimmten, grenzachtenden Leben der eigenen Sexualität. All dies gemeinsam ist entscheidend, damit das Kindeswohl gewährleistet werden kann.

Kinder und Jugendliche brauchen eine altersangemessene, sexualfreundliche Begleitung, die sie in ihren Erfahrungen im Umgang mit Bedürfnissen, Körperlichkeit, Beziehungen, geschlechtlicher Identität und Vielfalt wahrnimmt und ernst nimmt. Diese Erfahrungen sind sexuelle Lernfelder: Sie schaffen ein bestimmtes Körper- und Lebensgefühl und fördern die Beziehungs- und Liebesfähigkeit, die in der Sexualität Voraussetzung ist, um die eigenen Grenzen und die der anderen wahrzunehmen und einzuhalten.

So geht es beispielsweise auch um die Verbesserung der Sprachfähigkeit zu sexuellen Themen, denn nur wer Worte zur Verfügung hat, kann Wünsche und auch Grenzen kommunizieren.

Kinder und Jugendliche müssen, ihrem Entwicklungsstand angemessen, über Sexualität und auch sexualisierte Gewalt aufgeklärt werden – dies ist ein essenzieller Bestandteil der Prävention: Denn nur wer Bescheid weiß, kann auch Bescheid sagen.

Im Übrigen haben Menschen explizite sexuelle Rechte, die laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) universell gültig sind und sich aus den universellen Menschenrechten ableiten. Dazu gehören viele der oben genannten Aspekte.

Sexualpädagogisches Konzept

Ein sexualpädagogisches Konzept kann mit Ihrem Rechte- und Schutzkonzept Hand in Hand gehen und den Aspekt der sexuellen Bildung in Ihrer Organisation verankern. Dieses kann …

  • Sexualität als etwas grundsätzlich Positives, als menschliche Eigenschaft und Ressource beschreiben,
  • die sexuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen anerkennen und Lust als positive Lebensenergie beschreiben,
  • sexuelle Rechte anerkennen und Selbstbestimmung ermöglichen,
  • sexuelle und geschlechtliche Identität thematisieren und Diskriminierung verhindern,
  • die Bedingungen klären, unter denen es Erlaubnis- und Erfahrungsräume in der Einrichtung gibt,
  • eine Kultur des Sprechens über Körper und Sexualität etablieren; Sexual- und Körperaufklärung gewährleisten.

Vgl. auch Martin Gnielka, isp, www.gnielka.de

Literatur- und Materialempfehlungen

Bodmer, Nancy M.: Psychologie der Jugendsexualität: Theorie, Fakten und Interventionen. Hogrefe: Göttingen 2013.

BZgA (Hrsg.): Liebevoll begleiten … Körperwahrnehmung und körperliche Neugier kleiner Kinder. Ein Ratgeber für Eltern zur kindlichen Entwicklung vom 1. bis zum 6. Lebensjahr. Köln 2017.

Krüger, Michael, AJS Bayern (Hrsg.): Kinderschutz: Sexualerziehung in der Kita – Grundlagen, Konzept, Prävention. Don Bosco: München 2021.

Linke, Thorsten e.a.: Sexuelle Bildung in der Kinder- und Jugendhilfe: Die Bedeutung von Vertrauenskonzepten Jugendlicher für das Sprechen über Sexualität in pädagogischen Kontexten. Psychosozial-Verlag: Gießen 2020.

Martin / Nitschke: Sexuelle Bildung in der Schule: Themenorientierte Einführung und Methoden (Brennpunkt Schule). W. Kohlhammer: Stuttgart 2017.

Maywald, Jörg: Sexualpädagogik in der Kita. Kinder schützen, stärken, begleiten.  Herder: Freiburg/Basel/Wien 2018.

Der Paritätische NRW (Hrsg.): Zärtlich, sinnlich, schön – kindliche Sexualität. Fünf Schritte zum sexualpädagogischen Konzept in Kindertageseinrichtungen – eine Arbeitshilfe. Wuppertal 2019. Die Broschüre gibt es zum kostenlosen Download.

Weidinger, Bettina: Sexualität im Beratungsgespräch mit Jugendlichen. Springer: Berlin 2007.

WHO-Regionalbüro für Europa und BZgA: Standards für die Sexualaufklärung in Europa. Rahmenkonzept für politische Entscheidungsträger, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsbehörden, Expertinnen und Experten. Köln 2011. 

World Association for Sexual Health: Declaration of Sexual Rights. Minneapolis 2014.


Weiterlesen