Baustein 8: Aufarbeitung

Kommt es innerhalb einer Organisation zu Fällen von sexualisierter Gewalt, können sowohl der pädagogische Alltag als auch die Beteiligten langfristig Schaden erleiden. Darum ist es wichtig, ein Vorgehen zu entwickeln, das fachliches Handeln in der Fallbearbeitung reflektiert und persönliche Belastungen der Beteiligten bearbeitet. Ein Konzept zur Aufarbeitung von vergangenen Fällen sexualisierter Gewalt trägt dazu bei, dass sich eine fehlerfreundliche und lernende Organisation entwickelt. Die Leitfrage von Aufarbeitungsprozessen ist daher: Was können wir aus dem Geschehenen für unsere zukünftige Praxis lernen?

Bei Aufarbeitungsprozessen von Fällen sexualisierter Gewalt unterscheiden wir zwischen persönlicher und organisationaler Aufarbeitung.

Persönliche Aufarbeitung

Fälle von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche sind nicht nur für Betroffene mit psychisch-emotionalen Belastungen verbunden, sondern möglicherweise auch für Personen, die an der Intervention und Gewaltbearbeitung beteiligt sind. Neben der Versorgung von direkt und indirekt betroffenen Kindern und Jugendlichen spielt somit auch die Nachsorge mit Blick auf die erwachsenen Beteiligten eine wichtige Rolle.

Bei der persönlichen Aufarbeitung geht es darum, Beteiligte dabei zu unterstützen, das Erlebte zu verarbeiten. Bleiben Belastungen und negative Eindrücke zurück, besteht das Risiko, dass zukünftig Fälle von sexualisierter Gewalt nicht fachlich angemessen bearbeitet werden können. Für das Team geht es um die Überwindung des Schock-Zustandes, der häufig aus Fällen sexualisierter Gewalt resultiert, und eine Rückkehr in den Alltag der pädagogischen Praxis. Zudem soll langfristigen psychischen Belastungen oder Erkrankungen vorgebeugt werden. Daher ist es wichtig, diesem Prozess ausreichend Zeit und Ressourcen einzuräumen.

Im Rahmen von Inter- oder Supervision durch externe Personen bietet es sich an im Team / mit den Beteiligten über den Fall und dessen Bearbeitung zu sprechen:

  • Wie erging es euch bei der Fallbearbeitung (z.B. in Gesprächssituationen mit Betroffenen)?
  • Welche Gedanken, Ängste und Sorgen verbindet ihr mit dem Fall (z.B. eigene Schuld- und Schamgefühle)?
  • Gab es Momente der Überforderung? Was hat euch geholfen?

Es ist möglich, dass der beschriebene Aufarbeitungsprozess für einzelne Beteiligte nicht ausreichend ist, um emotionale Belastungen zu bearbeiten. Auch bei helfenden Personen können sich Traumata ausbilden. Hierbei empfiehlt es sich Personen an externe, professionelle Hilfestellen anzubinden. Die Organisation kann dabei unterstützen, indem sie Einzelsupervision bereitstellt oder therapeutische Begleitung finanziell unterstützt. 

Für die fachliche Aufarbeitung des Falls in der Organisation ist die Bearbeitung der psychisch-emotionalen Belastungen eine wichtige Voraussetzung.

Organisationale Aufarbeitung

Bei der organisationalen Aufarbeitung geht es um eine systematische Analyse der Fälle von sexualisierten Gewaltdynamiken sowie um die kritische Reflexion von institutionellen Kommunikations- und Handlungsabläufen. An dieser Stelle soll im Besonderen noch einmal auf die Bedeutung der Beteiligung von Betroffenenperspektiven im Zusammenhang mit Aufarbeitungsprozessen hingewiesen werden (weitere Informationen finden Sie hier: Stellungnahme der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung Sexuellen Kindesmissbrauchs zur Beteiligung Betroffener sexuellen Kindesmissbrauchs in Aufarbeitungsprozessen).

Leitfragen sind dabei:

  • Wie ist es zu den sexualisierten Gewaltdynamiken innerhalb unserer Strukturen gekommen? Welche Gegebenheiten haben es ggf. ermöglicht, dass Täter*innen bei uns andocken konnten?
  • Welche Strukturen haben dazu geführt, dass der Fall bekannt werden konnte?
  • Welche Erkenntnisse liefert uns der Fall für unsere Präventionsarbeit gegen sexualisierte Gewalt insgesamt? An welchen Stellen zeigt uns der Fall „blinde Flecken“ auf?

Dieser Schritt ist in erster Linie eine kritische Betrachtung der eigenen Strukturen sowie des eigenen Vorgehens im Rahmen der Intervention. Der Fokus liegt auf der Identifizierung von organisationalen Lücken und Fehlerquellen in der Fallbearbeitung. Es geht dabei nicht um Schuldzuweisungen, sondern um Erkenntnisse für die zukünftige Ausgestaltung des Rechte- und Schutzkonzeptes. Daher ist es wichtig, den Prozess der Aufarbeitung fehlerfreundlich und zukunftsorientiert zu gestalten („Was lernen wir als Organisation aus dem Fall?“). Die Ergebnisse der Aufarbeitung fließen anschließend in die Weiterentwicklung des Rechte- und Schutzkonzeptes ein: 

  • Führen die Resultate zu einer Neubewertung im Rahmen der Risiko- und Potentialanalyse?
  • Welche Anpassungen in einzelnen Schutzmaßnahmen (z.B. in Verhaltensleitlinien, Beteiligungs- und Beschwerdemanagement oder Interventionsleitfaden) tragen möglicherweise dazu bei, dass Fälle zukünftig besser (im Sinne des Schutzes von Kindern und Jugendlichen) bearbeitet werden können?
  • Was wird darüber hinaus gebraucht, um Fällen von sexualisierter Gewalt besser vorbeugen zu können?

Das Resultat der organisationalen Aufarbeitung ist eine bewusste Entscheidung zur Veränderung von bestehenden Schutzbemühungen. Eine externe Unterstützung ist für den gesamten Prozess eine Gelingensbedingung.

Hinweis

In diesem Baustein wurden vornehmlich der Prozess einer institutionellen Aufarbeitung eines Falles von sexualisierter Gewalt und dessen Bedeutung im Schutzprozess beschrieben. Unter dem Begriff „Aufarbeitung“ wird ebenso die historische Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt in der Gesellschaft beziehungsweise in gesellschaftlichen Teilbereichen (wie z.B. in Kirchen oder reformpädagogischen Zusammenhängen) verstanden. Dabei spielen juristische sowie sozialwissenschaftliche Aspekte eine Rolle (z.B.: Welches Ausmaß an Täter*innen und Betroffenen liegt vor? Welche Bedingungen haben systematische Gewaltausübung ermöglicht?). Vertiefend empfehlen wir an dieser Stelle die Arbeit der „Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung Sexuellen Kindesmissbrauchs“: https://www.aufarbeitungskommission.de/

Literatur- und Materialempfehlungen

Oppermann / Winter / Harder / Wolff / Schröer (Hrsg.): Lehrbuch Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen. Beltz: Weinheim 2018.