Qualität von Rechte- und Schutzkonzepten


    Rechte- und Schutzkonzepte haben das Ziel, Kinder und Jugendliche in den pädagogischen Einrichtungen zu stärken und zu schützen, Täter*innen abzuschrecken sowie Erwachsene ansprechbar und handlungsfähig im Falle von Gewalterfahrungen der jungen Menschen zu machen. Allerdings stellen sich dabei wichtige Fragen: Wie lässt sich nachvollziehen, ob diese Ziele mit den ergriffenen Maßnahmen auch erreicht werden? Und wie kann festgestellt werden, ob das Rechte- und Schutzkonzept wirksam ist?

    Individuelle und einrichtungsbezogene Rechte- und Schutzkonzepte

    Rechte- und Schutzkonzepte müssen individuell an die jeweilige Einrichtung und den Träger angepasst werden. Jede pädagogische Einrichtung bringt eigene Rahmenbedingungen, Risikofaktoren und Ressourcen mit sich, weshalb standardisierte Konzepte nicht ausreichen. Es gilt, Lösungen zu entwickeln, die auf die spezifischen Anforderungen der Einrichtung zugeschnitten sind. Dabei darf es jedoch nicht zu einem Qualitätsgefälle zwischen den verschiedenen Einrichtungen kommen. Um dies zu vermeiden, müssen empirische Kriterien für die Qualität von Schutzkonzepten entwickelt und Mindeststandards formuliert werden. Aktuell gibt es noch keine einheitlichen fachlichen Standards für alle Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, jedoch andere Forschungsstände, aus denen Gelingensfaktoren abgeleitet werden können.

    Im Landeskinderschutzgesetz NRW ist in §11 (6) vorgesehen, dass die oberste Landesjugendbehörde, sprich das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKJFGFI), mit den kommunalen Spitzenverbänden, den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, den Kirchen und den Verbänden der Träger unter Beteiligung der Landesjugendämter Vereinbarungen über die Qualitätssicherung und -entwicklung für Kinderschutzkonzepte treffen soll.

    Forschungsstand und Erkenntnisse aus Monitoring und Evaluation

    Der Forschungsstand zu Schutzkonzepten ist noch vergleichsweise gering, aber prinzipiell vorhanden. Monitoringstudien, wie das gemeinsame Monitoring des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) von 2019, liefern wichtige Einblicke in den Umsetzungsstand von Schutzkonzepten. Diese Studien zeigen, dass sich im Vergleich zu früheren Untersuchungen ein erkennbarer Fortschritt abzeichnet. Über 50 % der befragten Einrichtungen verfügen mittlerweile über Fragmente von Schutzkonzepten, doch nur wenige können bereits ein vollständiges Konzept vorweisen. Hier zeigt sich ein erheblicher Entwicklungsbedarf.

    Ein Großteil der Einrichtungen (80 %) arbeitet bereits mit Krisenleitfäden, doch auch hier gibt es große inhaltliche Unterschiede. So fokussieren die Krisenleitfäden in stationären Einrichtungen oft Verdachtsfälle von Gewalt, während Kindertageseinrichtungen sich stärker an den Vorgaben des §8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) orientieren. Dies verdeutlicht, dass die Inhalte der Konzepte je nach Einrichtung stark variieren und weiterentwickelt werden müssen.

    Ein weiteres zentrales Ergebnis des Monitorings des DJI zeigt, dass die Thematik des Kinderschutzes in Bewerbungsverfahren zunehmend eine Rolle spielt. Dies ist ein wichtiger Schritt, um bei Fachkräften das Bewusstsein für Kinderschutz bereits bei der Einstellung zu schärfen. Geregelte Beschwerdeverfahren und klare Ansprechstrukturen sind jedoch in den verschiedenen Einrichtungen noch ungleich verteilt. In stationären Einrichtungen sind solche Verfahren häufig etabliert, während Kindertageseinrichtungen hier noch erheblichen Nachholbedarf aufweisen.

    Aktuell läuft eine erneute Erhebung des DJI, welche den Umsetzungsstand von Schutzkonzepten an Schulen erhebt. Die Ergebnisse werden noch Ende 2024 erwartet.

    Problematik der Wirksamkeitsmessung

    Ein zentrales Problem bleibt die Frage, wie die Wirksamkeit von Schutzkonzepten gemessen werden kann. Dahingehend gibt es bislang kaum systematische Forschung. Die Frage nach der Wirksamkeit lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten: Gilt ein Schutzkonzept als wirksam, wenn keine sexualisierten Gewaltdynamiken in der Einrichtung entstehen? Oder kann die Wirksamkeit auch darin bestehen, dass Gewaltdynamiken, sobald sie auftreten, schnell von den Betroffenen offengelegt werden und eine adäquate Reaktion erfolgt? Es ist klar, dass die Messung von Wirksamkeit in diesem Bereich äußerst komplex ist und viele Faktoren berücksichtigt werden müssen.

    Das Verbundprojekt „SchutzNorm“ der Fachhochschule Kiel, der Universitäten Hildesheim und Kassel sowie der Hochschule Landshut hat Qualitätsstandards für Schutzkonzepte im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt. Dieses Projekt wurde im Rahmen der Förderlinie „Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Es stellt eine wichtige Grundlage für zukünftige Forschung und die Entwicklung von handlungsfeldübergreifenden Standards dar, die es ermöglichen, die Qualität von Schutzkonzepten besser zu verstehen und zu bewerten.

    Aus diesem Projekt, aus den unterschiedlichen Monitorings und auch aus verschiedenen Ausarbeitungsstudien können Gelingensfaktoren für die Etablierung und Umsetzung von Rechte- und Schutzkonzepten abgeleitet werden.

    Konzeptqualität: Inhaltliche Anforderungen an Rechte- und Schutzkonzepte

    Um die Qualität eines Rechte- und Schutzkonzepts zu bewerten, ist es wichtig, die inhaltlichen Anforderungen zu definieren. Ein zentrales Merkmal von Schutzkonzepten ist, dass sie auf den jeweiligen Träger und die spezifische Einrichtung zugeschnitten sein müssen. Eine pauschale Lösung gibt es dabei nicht, denn die Besonderheiten des jeweiligen Handlungsfeldes sowie die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Einrichtung müssen immer berücksichtigt werden.

    Die Grundlage für die Entwicklung eines Rechte- und Schutzkonzepts bildet eine umfassende Risiko- und Potentialanalyse. Dabei werden Gefährdungen und Schutzmöglichkeiten innerhalb der Einrichtung systematisch erfasst und bewertet. Ein zentraler Bestandteil des Konzepts ist auch die Auseinandersetzung mit institutioneller und pädagogischer Macht sowie deren potentieller missbräuchlicher Verwendung. Häufig wird das Thema Gewalt als „weit entfernt“ betrachtet, doch die Forschung und die Praxiserfahrung zeigen, dass es in jeder Einrichtung zu entsprechenden Vorfällen kommen kann. Dazu braucht es umfassende Sensibilisierung der pädagogischen Fachkräfte im Themenfeld.

    Ein gutes Rechte- und Schutzkonzept umfasst Maßnahmen auf drei Ebenen:

    • primäre Prävention (Vorbeugung),
    • sekundäre Prävention (Intervention bei konkreten Gefährdungen)
    • und tertiäre Prävention (Aufarbeitung und Nachsorge nach Vorfällen).

    Darüber hinaus müssen klare Zuständigkeiten für einzelne Personen aus der Leitungsebene und dem Mitarbeiter*innen-Team festgelegt und ihre Kompetenzen definiert werden. Ein weiteres zentrales Element ist die Berücksichtigung des Spannungsfelds zwischen dem Schutz vor sexualisierter Gewalt und der Schaffung von Möglichkeiten für sexuelle Bildung. Hier ist eine differenzierte und sensible Herangehensweise erforderlich.

    Sexualität ist ein Teil der Identität und sexuelle Bildung spielt eine zentrale Rolle für die Entwicklung eines gesunden und selbstbestimmten Umgangs damit. Wissen über körperliche, emotionale und soziale Aspekte von Sexualität zu vermitteln, Fragen zu klären und ein respektvolles Miteinander zu fördern, trägt zur Prävention sexualisierter Gewalt bei.

    Die Einrichtung selbst sollte schließlich zu einem „Kompetenzort“ werden, wie es auch von der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) gefordert wird. Dies bedeutet, dass Fort- und Weiterbildungsangebote sowie die Vermittlung von Fachwissen und Handlungswissen eine zentrale Rolle spielen müssen, um Fachkräften Handlungssicherheit bei beobachteten und gemeldeten Fällen von sexualisierter Gewalt zu geben.

    Die Qualitätsstandards des Projekts „SchutzNorm“ setzen auf eine systematische und umfassende Schutzstrategie. Sie umfassen sowohl präventive Maßnahmen als auch klare Strukturen für den Umgang mit Gefährdungen und Verdachtsfällen. Zentrales Ziel ist es, eine Schutzkultur zu etablieren, die dauerhaft im Arbeitsalltag verankert ist und durch regelmäßige Schulungen, Evaluationen und die aktive Beteiligung der Kinder und Jugendlichen stetig weiterentwickelt wird.

    • Schutzkultur: Schutz muss als kontinuierlicher Prozess in der Organisation verankert sein, unterstützt durch regelmäßige Schulungen und Sensibilisierungen.
    • Prävention: Regelmäßige Risikoeinschätzungen und Verhaltenskodizes helfen, spezifische Risiken zu identifizieren und gezielt entgegenzuwirken.
    • Strukturen und Zuständigkeiten: Klare Verantwortlichkeiten und der Einsatz von Schutzbeauftragten sind essenziell. Externe Unterstützung kann zur Qualitätssicherung beitragen.
    • Partizipation: Kinder und Jugendliche werden in die Entwicklung der Schutzkonzepte einbezogen. Leicht zugängliche Beschwerdewege sind unerlässlich.
    • Schulung der Mitarbeitenden: Regelmäßige Schulungen und die Reflexion der eigenen Rolle tragen zur Handlungssicherheit bei.
    • Intervention: Klare Handlungsleitfäden bei Verdachtsfällen sowie die Zusammenarbeit mit externen Fachkräften sichern professionelles Handeln.
    • Evaluation und Weiterentwicklung: Regelmäßige Überprüfungen und Anpassungen der Schutzkonzepte stellen deren Wirksamkeit sicher.
    • Transparenz: Schutzkonzepte sollten öffentlich kommuniziert und Eltern umfassend informiert werden.

    Prozessqualität: Der Weg zum Rechte- und Schutzkonzept

    Die Entwicklung eines Rechte- und Schutzkonzepts ist ein dynamischer Prozess, der sich an den Ressourcen und Kapazitäten der Organisation orientiert. Er sollte nicht an starren Fristen oder Terminen ausgerichtet sein, sondern flexibel und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Zu Beginn stehen die Motivation zur Veränderung und der Wunsch, ein Verständnis für den Schutz in der eigenen Einrichtung zu entwickeln. Auf dieser Grundlage wird eine „Veränderungsarchitektur“ entworfen, die den Prozess strukturiert.

    Eine Steuerungsgruppe übernimmt die Koordination des Erstellungsprozesses, während die Leitungsebene die übergeordnete Verantwortung für die Prozesssteuerung und die Einbindung aller relevanten Akteur*innen trägt. Ein entscheidendes Element ist die Beteiligung aller Akteur*innen innerhalb der Organisation – von den Mitarbeitenden bis zu den Kindern und Jugendlichen, die als „Expert*innen ihrer Lebensrealität“ eine besonders wichtige Rolle spielen. Durch ihre Einbeziehung wird sichergestellt, dass das Rechte- und Schutzkonzept praxisnah und kind- bzw. jugendgerecht entwickelt wird.

    Hier kann ein Spannungsfeld zwischen „top down“- und „bottom up“-Ansätzen entstehen. Während der Rahmen des Rechte- und Schutzkonzepts von der Leitungsebene vorgegeben wird, müssen gleichzeitig die Erfahrungen und Perspektiven der Mitarbeitenden sowie der Kinder und Jugendlichen in die Entwicklung des Konzepts einfließen. Nur so kann eine ausgewogene und praxisnahe Umsetzung gewährleistet werden.

    Im Laufe des Prozesses werden sogenannte „parallele Lernsysteme“ genutzt, z. B. Beiräte, Arbeitskreise oder Workshops. Diese fördern den Austausch zwischen den verschiedenen Akteur*innen und tragen zur Weiterentwicklung des Konzepts bei. Externe Expertise wird hinzugezogen, um den Prozess zu begleiten und sicherzustellen, dass alle relevanten fachlichen Aspekte berücksichtigt werden.

    Reflexion und Evaluation

    Prozessreflexion und regelmäßige Evaluationstermine sind wichtige Bestandteile der Entwicklung eines Rechte- und Schutzkonzepts. Sie ermöglichen es der Organisation, sich als „lernende Organisation“ weiterzuentwickeln und das Schutzkonzept kontinuierlich zu verbessern. So kann sichergestellt werden, dass das Konzept nicht statisch bleibt, sondern flexibel auf neue Herausforderungen und Entwicklungen reagiert.

    Fazit: Ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess

    Insgesamt zeigt sich, dass die Entwicklung von Rechte- und Schutzkonzepten ein langfristiger und kontinuierlicher Prozess ist, der sowohl inhaltliche als auch prozessuale Anforderungen erfüllen muss. Die individuellen Gegebenheiten jeder Einrichtung müssen berücksichtigt werden, ohne dabei die Qualität aus den Augen zu verlieren. Eine umfassende Risikoanalyse, klare Zuständigkeiten, die Beteiligung aller Akteur*innen sowie eine stetige Reflexion und Evaluation sind entscheidende Faktoren für den Erfolg eines Rechte- und Schutzkonzepts. Der Forschungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Messbarkeit der Wirksamkeit, bleibt jedoch hoch.

    Allroggen, M. et. al. 2018: Umgang mit sexueller Gewalt in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Göttingen: Hogrefe.

    Bayrischer Jugendring 2021: Schutzkonzepte in der Jugendarbeit. München.

    Eberhardt, B., Naasner, A. & Nitsch, M. 2016: Handlungsempfehlungen zur Implementierung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe. Düsseldorf.

    Fegert, J. et. al. 2018: Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen. Berlin: Springer.

    Henningsen, A. et. al. 2021: Verbundprojekt SchutzNorm. Qualitätsstandards für Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit. Kiel, Hildesheim, Kassel, Landshut.

    Kappler, S. et. al. 2019: Kinder und Jugendliche besser beschützen – der Anfang ist gemacht. Berlin.

    Oppermann, C. 2018: Lehrbuch Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

    Wolff, M. et. al. 2017: Schutzkonzepte in Theorie und Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.

    Weiterlesen: Zum Gewaltbegriff im Rechte- und Schutzkonzept

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    UN-Sonderberichterstatterin besucht die PsG.nrw


    Am 22. Oktober besuchte die UN-Sonderberichterstatterin über den Verkauf, die sexuelle Ausbeutung und den sexuellen Missbrauch von Kindern im Rahmen ihrer Deutschlandreise auch die Landesfachstelle PsG.nrw. Mama Fatima Singhateh unterstützt Staaten u.a. bei der Entwicklung rechtlicher und politischer Rahmenbedingungen zum Schutz von Kindern vor Gewalt. Vor diesem Hintergrund hat sie sich über die Angebote der Landesfachstelle informiert und sich mit dem Team zu Gelingensfaktoren und Hindernissen im Bereich der Prävention sexualisierter Gewalt ausgetauscht.

    UN-Sonderberichterstatterin Mama Fatima Singhateh mit Dr. Nadine Jastfelder (PsG.nrw) und Matthias Felling (AJS NRW)

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    Mehr Handlungssicherheit dank neuer Technologien


    Ein innovatives Training für Fachkräfte zur Gesprächsführung im Verdachtsfall sexualisierter Gewalt

    „Wir haben eine umfassende Evaluation durchgeführt und festgestellt: Die Teilnehmenden verbessern sich in ihrer Art, Fragen zu stellen, sie verbessern sich in ihrer Art, das Kind emotional zu unterstützen. Sie fühlen sich viel selbstwirksamer im Anschluss und trauen sich viel mehr selbst zu, solche Gespräche zu führen.“

     (Elsa Gewehr und Anett Tamm von der Psychologischen Hochschule Berlin)

    Zum Europäischen Tag zum Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexueller Gewalt am 18.11.2024 möchten wir auf ein möglicherweise zukunftsweisendes Trainingsprogramm aufmerksam machen.

    Passend zum Motto des Tages, der sich dieses Jahr um Chancen und Grenzen von neuen Technologien dreht, bietet das Programm pädagogischen Fachkräften eine praxisnahe Möglichkeit, sich in einem virtuellen Setting gezielt auf eine sensible Gesprächsführung vorzubereiten, wenn sie sexualisierte Gewalt vermuten. Es wurde im Verbunds-Forschungsprojekt ViContact für Lehrkräfte sowie Kinderschutzfachkräfte entwickelt und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert.

    Kürzlich haben wir ja unter Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe aktuelle Bedarfe und Fragestellungen erfasst. Eines der zentralen Ergebnisse: Das Bedürfnis nach Handlungssicherheit und Informationen zur Gesprächsführung im Verdachtsfall ist groß. Hier scheint es im professionellen Kontext eine Lücke zu geben, dabei ist die Rolle der Fachkräfte bei der Aufdeckung von sexualisierter Gewalt mitunter sehr bedeutsam:

    Pädagogische Fachkräfte können die ersten Erwachsenen außerhalb der Familie sein, die Anzeichen von Belastung oder Notlagen bei Kindern und Jugendlichen wahrnehmen, beispielsweise plötzliche Verhaltensänderungen, Leistungsabfall oder sozialen Rückzug. Solche Symptome können aber viele Ursachen haben. In diesen Momenten kommt es deshalb auf eine wertfreie, unterstützende und ergebnisoffene Gesprächsführung und entsprechende Fragetechniken an. Nur so können Kinder und Jugendliche sich öffnen und weitere Schritte eingeleitet werden, ohne dass die Situation durch Vorannahmen oder suggestive Fragen beeinflusst wird.

    Das ViContact-Training, das von der Psychologischen Hochschule Berlin unter der Leitung von Prof. Renate Volbert gemeinsam mit der Universitätsmedizin Göttingen unter der Leitung von Prof. Jürgen Müller und der Europa-Universität Flensburg unter der Leitung von Prof. Simone Pülschen entwickelt wurde, nimmt diese Fragetechniken in den Blick. Es kombiniert ein fundiertes E-Learning-Modul mit einem innovativen Virtual-Reality-Training. Im E-Learning-Modul vermitteln Videos, Wissensinhalte und Übungsaufgaben die Grundlagen der unterstützenden Gesprächsführung. Die Teilnehmenden wechseln dann in ein Virtual-Reality-Setting, in dem sie mithilfe von simulierten, kindlichen Gesprächspartner*innen Gesprächstechniken einüben und gezielt Feedback zu ihrer Gesprächsführung erhalten. Hierbei geht es ausschließlich um Erstgespräche, in denen ermittelt werden soll, ob es weiteren Handlungsbedarf gibt. Aktuell steht dieses Setting nur im Labor in Berlin zur Verfügung, künftig sollen Einrichtungen es auch für den lokalen Einsatz buchen können. 

    Das ViContact-Training kann ein praxisnahes Werkzeug für Fachkräfte werden, die in ihrem Arbeitsalltag auf herausfordernde Gesprächssituationen und mögliche Verdachtsfälle vorbereitet sein wollen. Das Projekt befindet sich in der Abschlussphase, in der Folge soll ein Kompetenzzentrum eingerichtet werden. Für pädagogische Fachkräfte wird das Training voraussichtlich im Laufe des Jahres 2025 zur Verfügung stehen – wir sind sehr gespannt darauf und halten Sie auf dem Laufenden.   

    Wir haben uns mit den Entwicklerinnen und Psychologinnen Elsa Gewehr und Anett Tamm von der Psychologischen Hochschule Berlin über das Projekt unterhalten.

    Hinweis: Der Fokus des Trainings liegt auf den grundlegenden Fähigkeiten zur Gesprächsführung für ein Erstgespräch, das auf eine mögliche Offenlegung abzielt. Mit Blick auf den Komplex der Intervention bei Anhaltspunkten auf / im Fall von sexualisierter Gewalt sind die Definition von Verantwortlichkeiten und Verfahrensabläufen beim Einschreiten und ein bedachtes, kooperatives Vorgehen unerlässlich. Dazu können Sie sich hier weitergehend informieren.

    PsG.nrw: Was genau war das Ziel des Forschungsprojekts?

    Ziel war die Entwicklung und Evaluation eines Trainingssystems, um Personen, die in der Praxis Gespräche mit Kindern zur Abklärung von Verdachtsfällen sexuellen Missbrauchs führen (wir benutzen meist diesen strafrechtlichen Begriff), in der konkreten Gesprächsführung zu trainieren. Dabei geht es immer um Erstgespräche in einem solchen Verlauf.

    Wir konzentrieren uns dabei auf die Frage: Wie kann man mit Kindern die Gespräche so führen, dass die Kinder sich sicher genug fühlen, sich jemandem zu öffnen und zu erzählen, was sie erlebt haben? Sie sollen optimal darin unterstützt werden, ihr autobiografisches Gedächtnis abzurufen. Es soll vermieden werden, sie so zu beeinflussen, dass falsche Informationen zutage treten oder es langfristig eine Veränderung von Gedächtnisinhalten geben kann.

    PsG.nrw: Woraus besteht das Programm und wie läuft es ab?

    Aktuell besteht es zum einen aus einem E-Learning-Programm. Das umfasst etwa 10 Stunden und besteht unter anderem aus Lehrvideos und praktischen Übungen, zum Beispiel zur Gesprächsführung mit Kindern, dazu, wie Kinder sich erinnern, zu sexualisierter Gewalt im Allgemeinen etc. Die Teilnehmenden können beispielsweise üben, Fragen so zu formulieren, dass sie für die Kinder emotional unterstützend sind.

    Dann gibt ein Präsenztreffen mit uns beiden und der Teilnehmendengruppe. Da können alle möglichen Themen besprochen werden, die sich in diesem E-Learning-Format nicht so gut umsetzen lassen. Beispielweise wenn die Teilnehmenden aus ihrer beruflichen Praxis bestimmte Konstellationen kennen, die wir in unserem E-Learning nicht abgedeckt haben.

    Wir führen auch noch mal praktische Übungen anhand von realen Fallbeispielen durch.

    Die Gruppe besteht aus zehn bis maximal 20 Personen aus unterschiedlichen Berufsgruppen. Diese sollen sich miteinander vernetzen und in Kontakt kommen.

    Danach folgen die Übungsgespräche in der virtuellen Realität. Aktuell kommen die Teilnehmenden dafür zu uns ins Labor. Für die Zukunft hoffen wir, dass wir unser System auch vor Ort anbieten können.

    Hier werden dann Gespräche mit virtuellen Kindern geführt und die Teilnehmenden erhalten dazu Feedback.

    Abschließend gibt es ein Supervisionsmodul, welches wir jedoch noch nicht in der Praxis getestet haben. Das soll die Brücke schlagen zum beruflichen Alltag der Teilnehmenden. Im Supervisionsmodul haben sie die Möglichkeit, uns anonymisiert Protokolle von eigenen Gesprächen zu übermitteln, und wir geben Feedback zur Gesprächsführung, also zur Art der Fragen, ob Unterstützung gegeben wurde, ob bestimmte Dinge am Anfang und im Verlauf berücksichtigt wurden.

    PsG.nrw: Wie sehen die Gespräche aus?

    Die Gespräche dauern zehn Minuten und finden in einem 3-D-Setting statt, die Teilnehmenden tragen eine VR-Brille. Die Gesprächssituation ist so: Man sitzt mit dem Kind im Klassenraum. Es ist eine zehnminütige Hofpause, alle anderen Kinder sind draußen. Und das Kind kommt auf einen zu oder man soll das Kind ansprechen.

    Die Teilnehmenden lesen vorher eine Fallvignette über ein Kind, sein Befinden und sein Lebensumfeld, in dem ein Verdachtsmoment aufgekommen ist.

    Dann erhalten sie die Aufgabe, das Kind zu befragen, um herauszufinden, was passiert ist. Sie können das Kind in der virtuellen Realität verbal befragen und das Kind antwortet weitgehend passend auf die Fragen, die man gestellt hat.

    Die Kinder öffnen sich nur dann und berichten nur dann akkurat, was ihnen „passiert“ ist, wenn sie mit den Methoden und mit den Fragetechniken befragt werden, die die Teilnehmenden vorher im E-Learning gelernt haben.

    Im Anschluss an die Gespräche bekommen die Teilnehmenden automatisiertes Feedback zu ihrer individuellen Gesprächsführung. Zum Beispiel wird zurückgespielt, wie viele zielführende oder weniger zielführende Fragen sie gestellt haben und welche Arten von Fragen das waren.

    Die Teilnehmenden bekommen einige ihrer Fragen noch einmal schriftlich angezeigt und sehen einen kleinen Text zu der Fragekategorie und den Auswirkungen dieser Art von Fragen. Je nachdem werden sie dazu ermutigt, davon mehr zu stellen oder sie zu vermeiden. So können sie sich über die Gespräche hinweg verbessern.

    PsG.nrw: Wie können wir uns diese virtuellen Kinder genau vorstellen?

    Die virtuellen Kinder sehen schon computergeneriert aus, es sind also keine fotorealistischen Gestalten. Wichtig sind die einprogrammierten Gedächtnisinhalte zu verschiedenen Themen, die sie dann, wenn man sie fragt, freigeben können.

    Sie sind um die zehn Jahre alt. Die besonderen Herausforderungen mit besonders jungen Kindern konnten in diesem Pilotprojekt noch nicht umgesetzt werden.

    Wir haben gleichermaßen Jungen wie Mädchen. Dann ist z. B. ein Kind dabei, das nicht so gut sehen kann, und eines hat einen Migrationshintergrund.

    Die Kinder haben allgemeine Gedächtnisinhalte zu Familie, Schule, Freundschaften, aber auch zu jeweils einem kritischen Erlebnis, um das es in dem Gespräch zentral gehen soll. Diese Erlebnisse können aus drei Bereichen kommen: Es kann ein Erlebnis sexualisierter Gewalt sein, es kann aber auch ein anderes Erlebnis sein, welches interventionsbedürftig ist. Sprich eine andere Kindeswohlgefährdungslage oder Form von Vernachlässigung. Oder es kann etwas sein, das zwar belastend für das Kind war, aber keiner direkten Intervention durch eine erwachsene Person bedarf, z. B. eine Auseinandersetzung mit einem Mitschüler oder einer Mitschülerin. Jedes virtuelle Kind, mit dem man sich unterhält, hat immer nur eines von diesen drei Ereignissen erlebt.

    Die Aufgabe ist es dann, mit dem Kind zu sprechen und herauszufinden, was passiert ist. Wir haben diese drei Varianten entwickelt, weil wir das Anliegen haben, auch zu vermitteln, dass Teilnehmende ergebnisoffen befragen sollen. Es geht nicht nur darum herauszufinden, ob beispielsweise ein sexueller Missbrauch vorliegt oder nicht, sondern sie sollen lernen, den Kindern zuzuhören und so die Information zu erhalten, was bei ihnen vorgefallen ist.

    Die Interaktion mit den Kindern funktioniert so, dass man ihnen eine Frage stellt, die aufgenommen und auf verschiedenen Ebenen kategorisiert wird, beispielsweise wird zwischen erwünschten und unerwünschten Fragekategorien unterschieden. Erwünschte Fragen sind zum Beispiel Erzählaufforderungen oder Formen aktiven Zuhörens. Unerwünschte Fragen sind Suggestivfragen, aber auch Ja-Nein-Fragen, Auswahlfragen oder unverständliche Fragen.

    Im Hintergrund gibt es einen komplexen Algorithmus, der basierend auf der kategorisierten Frageform und dem Inhalt der Frage bestimmt, mit welcher Wahrscheinlichkeit welche Antwort ausgegeben wird. Dieser Algorithmus wurde nach Forschungserkenntnissen dazu programmiert, wie Kinder antworten, wenn sie die verschiedenen Arten von Fragen gestellt bekommen.

    Es sind aber auch unsere praktischen Erfahrungen aus eigenen Befragungen mit eingeflossen und letztlich auch ein paar didaktische Überlegungen.

    Das Gespräch ist nach 10 Minuten zu Ende, kann auch selbstständig beendet werden. Dann bekommen die Teilnehmenden das Feedback dazu.

    Dadurch, dass die Kinder auch ganz viel allgemeines Wissen besitzen, kann man beim Gesprächseinstieg auch über andere Dinge mit ihnen sprechen. So besteht die Möglichkeit, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, sondern den Einstieg neutral oder positiv zu gestalten.

    Außerdem haben wir zwei Varianten umgesetzt: Es gibt Kinder, die kommen von sich aus auf die Gesprächspartner*in zu und sagen: „Haben Sie ein Moment Zeit für mich? Ich möchte gern was erzählen.“ Hier ist die Aufgabe, das aufzugreifen und aktiv zuzuhören. Da sind die Wahrscheinlichkeiten, dass das Kind einer erwachsenen Person etwas Relevantes sagt, höher.

    Und dann haben wir die Variante, in der es eine Auffälligkeit gibt. Bei der Variante ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Kinder gleich was Relevantes sagen, geringer. Denn wie im wahren Leben haben sich die Kinder ja noch gar nicht dafür entschieden, sich zu offenbaren. Da ist es wichtig, dass die Teilnehmenden erst einmal unterstützend fragen, sodass die Kinder merken: Mit der Person kann ich mich unterhalten, die ist auch in der Lage, sich das anzuhören. Und dann steigt die Wahrscheinlichkeit für informative Antworten je nachdem, wie gut gefragt wird und ob unterstützende Techniken angewandt werden.

    So kann ein möglichst realistisches Gespräch mit diesen virtuellen Kindern geführt werden.

    Die Teilnehmenden bekommen nach einer gewissen Zeit einen Hinweis, dass das Gespräch jetzt nahezu zu Ende ist. Und dann wissen sie: Spätestens jetzt sollten sie, wenn sie etwas herausgefunden haben, noch fragen, ob das Kind schon mit jemandem darüber gesprochen hat, ob das Vorgefallene aktuell ist und wie häufig es passiert ist. Haben sie alle Informationen, die notwendig sind, um einzuschätzen, wie hoch der Handlungsbedarf ist?

    PsG.nrw: Wie gehen Sie um mit Teilnehmenden, die selbst Betroffene sind?

    Teilnehmende werden zu Beginn über die Inhalte des Trainings informiert und können das Gespräch abbrechen, falls es emotional zu belastend wird. Im Praxistest war dies bislang nicht nötig. Die Teilnahme an dem Training ist zudem immer freiwillig.

    Und dann findet dieses virtuelle Setting ja innerhalb der Realität statt. Die Person hat die VR-Brille auf dem Kopf, und eine ViContact-Mitarbeiterin, die das System steuert, sitzt mit im Raum und bekommt auch mit, wenn es emotional belastend wird. Sie könnte eingreifen und ist ansprechbar. Auch im Anschluss können solche emotionalen Belastungen noch besprochen werden. Bei der größeren Evaluationsstudie, die wir durchgeführt haben, wurde optional eine professionelle psychologische Beratung im Anschluss an die VR-Gespräche angeboten, falls sich jemand belastet fühlt. Das wurde aber von den Teilnehmenden nicht in Anspruch genommen.

    Die Frage rührt sicher auch von der Vorstellung her, dass diese virtuellen Gespräche sehr belastend sein können. Vielleicht gibt es da eine falsche Vorstellung darüber, wie intensiv und im Detail sexualisierte Gewalt besprochen wird. Die Kinder haben ja vordefinierte Sätze zu dem, was sie erlebt haben. Das sind alle möglichen Sätze über verschiedene Bereiche des Lebens sowie über einen potenziell problematischen Bereich. Und einige Kinder, die so programmiert sind, dass sie sexuellen Missbrauch erlebt haben sollen, sagen eben auch Sätze zu sexuellem Missbrauch. Die sexuellen Handlungen an sich werden nicht sehr detailliert besprochen.

    Dieses Training – das ist ein wichtiges Merkmal – ist ausgerichtet auf Erstgespräche. Und in denen geht es anders als in forensischen Gesprächen (also bei der Polizei, vor Gericht oder in der Begutachtung) erst einmal darum herauszufinden, ob es überhaupt Handlungsbedarf gibt und wie dieser ungefähr aussehen kann. Dafür müssen die Lehrkräfte und auch die Fachkräfte nur so viel wissen, dass sie einschätzen können: Ist es sexualisierte Gewalt, ist es eine sonstige Form von Kindeswohlgefährdung oder ein anderes interventionsbedürftiges Ereignis?

    Und: Ist das Kind aktuell in Gefahr, von wem geht die potenzielle Bedrohung aus, wie häufig ist es schon passiert, hat das Kind mit jemandem gesprochen?

    Ist für die Teilnahme an dem Training ein gewisses Vorwissen erforderlich?

    Man braucht kein Vorwissen, man bekommt wesentliches Wissen im E-Learning vermittelt und kann es dann anwenden. Das Training ist so aufgebaut, dass grundlegende Fähigkeiten zur Gesprächsführung vermittelt werden, die übergreifend in verschiedenen Bereichen gelten.

    PsG.nrw: Müssen Einschätzungen nicht eher im Team vorgenommen werden?

    Tatsächlich wurde von den Teilnehmenden vor allem aus dem Bereich Jugendamt auch angemerkt, dass man solche Gespräche eigentlich nicht allein durchführen würde, wenn man schon etwas weiß. Aber der Fokus liegt bei uns ja auf dem Erstgespräch, das auf eine mögliche Offenbarung abzielt, und auf dem Erwerb der Fähigkeiten zur Gesprächsführung. Deshalb ist hier nur eine Eins-zu-eins-Situation dargestellt.

    Die trainierende Person soll diese grundlegenden basalen Fähigkeiten zur Gesprächsführung lernen und üben können.

    PsG.nrw: Wie kann gewährleistet werden, dass sich die Lerninhalte verfestigen und im Alltag angewendet werden können?

    Einmal dadurch, dass die Teilnehmenden mehrere Durchgänge haben, in denen sie das Feedback, das sie bekommen haben, gleich umsetzen, üben und festigen können. Auch im Präsenztermin wird eine Kopplung zum Arbeitsalltag der Teilnehmenden hergestellt. Wir laden da auch sehr stark dazu ein, über herausfordernde Gesprächssituationen aus dem eigenen beruflichen Alltag zu berichten.

    Beim letzten Mal hatten wir verschiedene Professionen im Kurs, sodass die Teilnehmenden auch voneinander etwas lernen konnten.

    Und dann gibt es noch das Supervisionsmodul, das konkret auf den Transfer des gelernten Wissens in die Praxis abzielt.

    Was wir bisher von den Teilnehmenden aus dem Kinderschutz nach dem ersten Praxistest gehört haben, war, dass sie nach dem Training gleich die ersten allgemeinen Gespräche mit Kindern, auf ganz andere Art und Weise geführt haben. Und dass sie verblüfft waren, wie viel sie von den Kindern erfahren haben. Das waren Gespräche zu allen möglichen Themen, gar nicht zu sexualisierter Gewalt, sondern zum Beispiel dazu, wie es in der Schule läuft. Die Teilnehmenden berichteten, dass sie da normalerweise wenig erfahren: Wie war es in der Schule? Gut, schlecht, naja … Da kommt nicht so viel. Jetzt haben sie angefangen, diese offenen Erzählaufforderungen, die wir ihnen beibringen, viel mehr mit einzubringen und zu zeigen, dass sie sich wirklich für das Kind interessieren. Sie fragen nicht mehr einfach, war es gut in der Schule, sondern: Mensch, ich interessiere mich total dafür, wie es bei dir in der Schule läuft – erzähl mir doch mal, wie heute der Tag war. Und dann fragen sie weiter, mit offenen Erzählaufforderungen.

    Der nächste Schritt ist jetzt zu gucken, ob der Trainingserfolg auch über einen längeren Zeitverlauf, zum Beispiel drei Monate, stabil bleibt.

    ViContact: Eine Teilnehmerin mit VR-Brille und das Kind im virtuellen Setting

    Elsa Gewehr (M. Sc. Psychologie, M. Sc. Rechtspsychologie) ist als Rechtspsychologin in Wissenschaft und Praxis tätig. Sie ist Mitentwicklerin des ViContact-Trainingssystems und Teil des ViContact-Projektteams an der Psychologischen Hochschule Berlin. Sie promoviert bei Frau Prof. Dr. Renate Volbert zu individuellen Unterschieden im suggestiven Frageverhalten von Erwachsenen in Gesprächen mit Kindern über sexuellen Missbrauch. Im Jahr 2025 wird sie eine Professur für Kriminalpsychologie an der Macromedia Hochschule für angewandte Wissenschaften in Berlin antreten. In der Praxis ist sie als aussagepsychologische Sachverständige für Strafverfahren tätig. 

    Anett Tamm (Dipl.-Psych., Fachpsychologin für Rechtspsychologie) hat als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Psychologischen Hochschule Berlin das Trainingssystem zur Gesprächsführung in Verdachtsfällen von Missbrauch und Misshandlung „ViContact“ mit entwickelt. In der Forschung gilt ihr besonderes Interesse der unterstützenden Gesprächsführung. Außerdem arbeitet sie als psychologische Sachverständige mit Schwerpunkt Aussagepsychologie. Sie ist Mitbegründerin des Zentrums für Aussagepsychologie in Berlin und unterrichtet neben der Gutachten- und Forschungstätigkeit Personen diverser Professionen zu aussagepsychologischen Themen.

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    Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger (@cyberkriminologe) zur Relevanz digitaler Kriminalprävention


    Bei unserer Fachtagung im September 2024 zur Prävention sexualisierter Gewalt im digitalen Raum hielt Cyberkriminologe Prof. Dr. iur. Thomas-Gabriel Rüdiger einen so spannenden wie aufrüttelnden Vortrag zur Relevanz digitaler Kriminalprävention.

    Wir haben ihm drei Fragen gestellt, die er hier noch einmal für alle beantwortet! 

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    PsG.nrw: Warum gibt es laut Statistik immer mehr Jugendliche, die sich im digitalen Raum strafbar machen?

    Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger: Leider müssen wir in der polizeilichen Kriminalstatistik in den letzten Jahren den traurigen Trend verzeichnen, dass immer mehr minderjährige Tatverdächtige über digitale Sexualdelikte in Erscheinung treten. Teilweise reden wir über 40 bis 50% der Tatverdächtigen.

    Und hier muss man aus meiner Sicht unterscheiden zwischen zwei groben Richtungen.

    Einmal haben wir zum Beispiel einen Siebzehnjährigen, der auf eine Elfjährige einwirkt um von ihr übers Smartphone ein Nacktbild zu erhalten. Das ist klassisches Cybergrooming und klassische Deliktsbegehung.

    Und dann haben wir Delikte, wo digitale Bildung das Relevante ist. Beispielsweise wenn eine Vierzehnjährige mit ihrem dreizehnjährigen Freund Nacktbilder austauscht und niemand mit ihr darüber geredet hat, was hier eigentlich strafbar ist. Und sie dann also Sexting betreibt und auf einmal mit einer Strafbarkeit konfrontiert wird. Oder wenn Kinder und Jugendliche in einem Klassenchat sind, wo irgendjemand ein solches Bild postet und das dann vollautomatisch heruntergeladen wird und auf einmal eine Besitzstrafbarkeit, zum Beispiel von kinderpornografischen Delikten, im Raum steht. Da brauchen wir eher digitale Bildung als Strafrecht und hier müssen wir ansetzen.

    PsG.nrw: Was sind aus Ihrer Sicht aktuell die größten Risiken für Kinder und Jugendliche im digitalen Raum?

    Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger: Es gibt nicht dieses eine Risiko, wo man sagen kann: Wenn man das in den Griff kriegen könnte, wäre der digitale Raum für Kinder sicherer.

    Vielmehr ist es so, dass im Prinzip der digitale Raum von Erwachsenen für Erwachsene geschaffen wurde, und Schutzinteressen von Kindern spielen dabei eigentlich keine Rolle. Das merkt man bis heute. Es ist immer noch so, dass es für viele Kinder Normalität darstellen kann, im digitalen Raum mit Sexualdelikten und pornografischen Inhalten konfrontiert zu werden. Dass sie vielleicht auf Hassnachrichten treffen, auf Fake News, auf Challenges.

    Es kann also nicht darum gehen, ein Phänomen in irgendeiner Form in den Griff zu kriegen, sondern es muss generell darum gehen, einen digitalen Raum zu schaffen, der auch für Kinder sicher ist. Und das sehe ich gegenwärtig in keiner Form.

    PsG.nrw: Hier sind also die Plattform-Anbieter*innen und alle gesellschaftlichen Akteur*innen in der Verantwortung.

    Wie können wir Kinder und Jugendliche aus kriminologischer Sicht denn am besten schützen?

    Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger: Gegenwärtig sind der beste Schutz für die eigenen Kinder immer noch motivierte Eltern, die sich selber fortbilden und die versuchen, ihre Kinder auf diesen digitalen Raum vorzubereiten. Wovon ich wenig halte, ist eine generelle Diskussion zum Verbot, wenn mit so einer Verbotsdiskussion nicht einhergeht, dass Kinder und Jugendliche trotzdem auf diesen digitalen Raum durch digitale Bildung vorbereitet werden. Denn das ist entscheidend: Das Social Media-Zeitalter fängt aus meiner Sicht jetzt schon an auszulaufen. Was nun vor uns steht, ist das KI-Zeitalter. Und das wird uns nochmal vor ganz andere Herausforderungen stellen, auf die wir uns jetzt schon vorbereiten müssen.

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    Interessenbekundungs­verfahren für neue Kinderschutzprofessur gestartet


    Mit der Einrichtung einer neuen Professur für Kinderschutz und Kinderrechte in Nordrhein-Westfalen unternimmt die Landesregierung einen weiteren Schritt, um Fachkräften in Theorie und Praxis Handlungssicherheit im Umgang mit Verdachtsfällen zu vermitteln und ihnen den Mut und die nötigen Kompetenzen zu vermitteln, diesen auch professionell nachzugehen.

    Ziel der Professur ist es, an einer Hochschule des Landes Forschung und Lehre sowie den wissenschaftlichen Austausch zu diesen Themen zu stärken, den Austausch über Kinderschutzthemen in relevanten Studiengängen weiter auf- und auszubauen, die bestehenden Kinderschutzstrukturen in Nordrhein-Westfalen einzubinden sowie das Wissen in die Breite der Gesellschaft zu tragen.

    Das nun gestartete Interessensbekundungsverfahren richtet sich an die staatlichen und staatlich refinanzierten Hochschulen für angewandte Wissenschaften.

    Hier geht’s zur Pressemitteilung.

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    Umfrage zum Angebot der PsG.nrw


    im Herbst wird die Landesfachstelle Prävention sexualisierte Gewalt NRW 4 Jahre alt. Zeit für uns, gemeinsam mit Ihnen zurückzuschauen auf das bisher Erreichte: Ihre Meinung ist gefragt!

    Wir freuen uns, wenn Sie an der untenstehenden Umfrage teilnehmen (Laufzeit: bis 5.7.2024). Dies wird etwa 5-6 Minuten in Anspruch nehmen. 

    Die Umfrage ist anonym / die Ergebnisse werden anonymisiert angezeigt. Wenn Sie einen von 5 PsG.nrw-Regenschirmen gewinnen möchten, können Sie uns aber am Ende Ihre Mailadresse dalassen und nehmen dann an unserer Verlosung teil! Die Teilnahmebedingungen finden Sie unten in der Umfragemaske.

    Hier geht’s zur Umfrage:

    https://app.edkimo.com/feedback/keuzza?utm_source=pwa&utm_medium=fbc-copy

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    Der Gewaltbegriff im Rechte- und Schutzkonzept


    Im Mai 2022 ist das Landeskinderschutzgesetz in NRW in Kraft getreten. Dort ist in §11 Absatz 1 verankert, dass Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendhilfe gegen Formen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie gegen Machtmissbrauch und weitere Formen von Kindeswohlgefährdung schützen sollen. Angesichts dieses umfangreichen Gewaltbegriffs im Gesetz stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Anknüpfungspunkten von Prävention, die ein Rechte- und Schutzkonzept leisten kann.

    Jegliche Formen von Gewalt und Machtmissbrauch sind Risiken für das gesunde Aufwachsen von jungen Menschen. Das Erleben von Gewalt geht für Betroffene mit physischen und psychischen Belastungen einher, ist ein Risikofaktor für die Ausbildung von psychischen Krankheiten und steht der Wahrung von höchstpersönlichen Rechten der Kinder und Jugendlichen gegenüber.  Der Schutz vor Gewalt und die Wahrung von höchstpersönlichen Rechten ist daher eine grundsätzliche Aufgabe von pädagogisch Tätigen. 

    Im Folgenden möchten wir darlegen, wie wir als Landesfachstelle mit dem umfangreichen Gewaltbegriff umgehen. Zum Zweiten möchten wir aber auch noch einmal begründen, warum wir es wichtig finden, Formen sexualisierter Gewalt hervorzuheben und spezifisch in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus erörtern wir, welche Möglichkeiten der Berücksichtigung wir im Schutzprozess sehen.  

    Warum ein Zusammendenken des Gewaltbegriffs notwendig ist

    Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Praxis zeigen, dass Gewaltformen nicht getrennt voneinander auftreten, sondern ineinander übergehen. Täter*innen, die sexuelle Handlungen gegen Kinder und Jugendliche ausüben, wenden in ihrem strategischen Vorgehen vor allem psychische Gewalt an. Sie manipulieren die Betroffenen und setzen sie unter Druck, um zu verhindern, dass sich junge Menschen hilfesuchend an Unterstützer*innen wenden können. Auch Formen von körperlicher Gewaltanwendung können Teil der Täter*innen-Strategie sein, um Betroffene körperlich zu desensibilisieren und/oder zu bedrohen.

    Erwachsene sind vor allem durch ihre körperliche, psychisch-emotionale und kognitive Überlegenheit in einer Machtposition gegenüber Kindern und Jugendlichen. Täter*innen setzen an diesem ungleichen Verhältnis an, sie nutzen ihre Machtposition, um sexualisierte Gewalt auszuüben. Wenn wir von Prävention sprechen und diese durch Schutzprozesse umsetzen, so wenden wir uns damit der körperlichen und psychischen Unversehrtheit zu und berücksichtigen insbesondere das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen.

    Auch in anderen Konstellationen verlaufen die Grenzen zwischen den Formen von Gewalt fließend. Zwar ist es möglich, dass einzelne Formen von Gewalt ohne die Anwendung weiterer Formen ausgeübt werden. Zum Beispiel kann psychische Gewalt durch systematische Beleidung und Erniedrigung auftreten, ohne dass es zu weiteren Formen der Gewalt kommt. Für Rechte- und Schutzkonzepte sehen wir dabei den Bedarf, die Perspektive auf Gewaltformen im Schutzprozess zu erweitern (siehe übernächsten Abschnitt).

    Warum wir es wichtig finden, sexualisierte Gewalt zu betonen

    Der Grund, aus dem wir im Zusammenhang mit Rechte- und Schutzkonzepten noch einmal besonders auf sexualisierte Gewaltdynamiken hinweisen wollen, ergibt sich aus dem strategischen Vorgehen der Täter*innen. Ihre manipulativen Strategien setzen nicht nur bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen an, sondern zielen auf das Umfeld und die Struktur ab, in denen sich Täter*innen bewegen. Sukzessiv verändern sie Abläufe, passen Regelungen an und beeinflussen Team-Dynamiken, sodass die Gegebenheiten insgesamt begünstigend für das Ausüben von sexualisierter Gewalt sind. Diese Besonderheiten durch Täter*innen-Strategien lassen sich ausschließlich für sexualisierte Gewaltdynamiken identifizieren.

    Für das Minimieren des Risikos von (sexualisierter) Gewalt in Organisationen durch ein Rechte- und Schutzkonzept ist es daher entscheidend, die Strategien der Täter*innen zu kennen und bei der Betrachtung der Bedingungen in der Organisation/Einrichtung gezielt in den Blick zu nehmen.  

    Im Schritt der Risiko- und Potentialanalyse werden mögliche Anknüpfungspunkte für Täter*innen-Strategien identifiziert, die somit Risikofaktoren für sexualisierte Gewaltdynamiken sind (> Risiko- und Potentialanalyse). Darauf aufbauend sollten dann Rechte- und Schutzkonzepte entwickelt werden, die eine achtsame und grenzwahrende Kultur in der Organisation etablieren und die Möglichkeitsräume für Täter*innen minimieren.

    Warum eine differenzierte Betrachtung in den Bausteinen des Rechte- und Schutzkonzeptes sinnvoll ist 

    Schutzprozesse haben zum Ziel, Risiken von (sexualisierter) Gewalt zu minimieren und dementsprechend Organisationen zu möglichst sicheren Orten für Kinder und Jugendliche zu machen. Ein wesentlicher Kern ist wie bereits beschrieben die Risiko- und Potentialanalyse, bei der es darum geht, die Bedarfe und Ressourcen für Schutzbemühungen zu identifizieren. Je differenzierter, detaillierter und umfassender die Analyse durchgeführt wird, desto realistischer und praxisnäher werden die Ergebnisse.

    Dementsprechend kann eine Risiko- und Potentialanalyse davon profitieren, wenn Gewaltausformungen differenziert in den Blick genommen werden, um offenzulegen, inwiefern sich verschiedene Formen der Gewalt in der Organisationpraxis etabliert haben.

     Zum Beispiel lässt sich hier erörtern:

    • Welches Verständnis hat die Organisation von Gewalt? Gibt es ein Bewusstsein für einen differenzierten Gewaltbegriff mit unterschiedlichen Ausformungen?
    • Welche Regeln existieren in der Organisation, die den persönlichen Umgang untereinander beziehungsweise den pädagogischen Umgang zwischen Mitarbeitenden und Klient*innen festlegen?
    • Gibt es Umgangsformen, Traditionen/Rituale oder „ungeschriebene Gesetze“, die Aspekte von zum Beispiel körperlichen Grenzüberschreitungen, verbaler Abwertung oder Missachtung von persönlichen Grenzen aufweisen (in allen Konstellationen)?
    • Welche Verhaltens- und Kommunikationskultur existiert insbesondere unter den Mitarbeiter*innen? Gibt es eine Kultur der gegenseitigen Wertschätzung und Achtung (auch in der Ansprache)? Gibt es ein Bewusstsein dafür, dass sexualisierte Gewalt auch in mediatisierter Form auftritt, da digitale Medien Hilfsmittel und/oder Umgebung von Gewalthandlungen sein können?

    Unter anderem Fragestellungen wie diese erweitern den Blick auf die eigenen Strukturen und legen den Fokus darauf, inwieweit Verhaltens- und Umgangsweisen, Sprache und Kommunikation oder Regeln (auch ungeschriebene) gewaltvoll sind und einer Veränderung bedürfen. Insbesondere Erwachsene haben die Möglichkeit zu überprüfen, inwiefern verschiedene Formen der Gewalt (bewusst oder unbewusst) Teil des organisationalen Alltags sind.

    In einem zweiten Schritt lassen sich auf Grundlage der Erkenntnisse, die in der Risiko- und Potentialanalyse gewonnen wurden, konkrete Bausteine für das Rechte- und Schutzkonzept entwickeln. Auch dabei ist es möglich, alle Formen von Gewalt und Machtmissbrauch mitzudenken. So lassen sich beispielsweise Verhaltenserwartungen bezüglich der Nicht-Anwendung verbaler/psychischer Gewalt explizit in Verhaltensleitlinien und -kodexe implementieren. Ebenso können die Themen Gewaltprävention oder Deeskalationstraining mit in den Fortbildungsplan aufgenommen werden. Ein weiteres Beispiel ist die Möglichkeit, das Interventionsverfahren zu erweitern und interne Handlungsabläufe festzulegen, wenn es beispielsweise zu körperlichen Auseinandersetzungen unter Jugendlichen in der Einrichtung kommt.

    Siehe dazu auch die Handreichung „Thema Jugend Kompakt. Rechte- und Schutzkonzepte in der Jugendverbandsarbeit“ der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW und des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend.

    Was ist überhaupt Gewalt? Diese Diskussion muss weitergehen

    Sämtliche Formen von Gewalt sind ein Risiko für gesundes Aufwachsen junger Menschen. Rechte- und Schutzkonzepte haben zum Ziel, Einrichtungen zu möglichst sicheren Orten für Kinder und Jugendliche zu machen. Daher müssen alle Formen von Gewalt in der Praxis mitgedacht werden. Eine Subsumierung von sexualisierter Gewalt in einen „allgemeinen Gewaltbegriff“ geht mit dem Risiko einher, dass ebenjene Spezifika aus dem Sichtfeld geraten und somit innerhalb des Schutzprozesses unzureichend berücksichtigt werden.

    Die Einordnung des Gewaltbegriffs und welche Handlungen als gewaltvoll gelten, ist historisch gewachsen und wurde (und wird auch heute) unterschiedlich bewertet. Schauen wir auf Gewalt als Phänomen, ist es elementar zu hinterfragen, was wir überhaupt als Gewalt definieren und welche Ausformungen wir mit einbeziehen. In diesem Zusammenhang können wir Formen der Gewalt auch nicht losgelöst von gesellschaftlichen Machtstrukturen denken. Kinder und Jugendliche sind keine einheitliche Gruppe und die Bedingungen für das Aufwachsen sind von der sozialen Position abhängig. Diskriminierungserfahrungen durch unter anderem Klassismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit oder Ableismus gehören dabei zur Lebensrealität von jungen Menschen und ergeben unterschiedliche Vulnerabilitäten.

    Auch betreffen junge Menschen weitere Gewaltkonstellationen wie Zeug*innenschaft häuslicher Gewalt, Gewalt in der Partner*innenschaft, Stalking, Sextortion und Femizide, die ebenfalls zur Lebensrealität gehören (können) und die es zu berücksichtigen gilt.

    Die Komplexität und Viel-Dimensionalität des Gewaltbegriffs sind eine Herausforderung für die Präventionsarbeit durch Rechte- und Schutzkonzepte. An dieser Stelle sei aber noch einmal das Ziel der achtsamen Organisationskultur hervorgehoben, die sich durch Konzepte etablieren soll. Eine Kultur der Grenzachtung, des Hinschauens, der Verantwortung und (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit Machtstrukturen erschwert eine Anknüpfung von jeglichen Gewaltdynamiken und begünstigt ein möglichst sicheres Aufwachsen von jungen Menschen.

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    Dritter Umsetzungsbericht des Handlungs- und Maßnahmenkonzepts Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche


    Das Handlungs- und Maßnahmenkonzept im Bereich „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche“ für NRW wurde im Jahr 2020 von der Landesregierung beschlossen und wird seitdem fortlaufend umgesetzt und weiterentwickelt. Nun ist der dritte Umsetzungsbericht erschienen. Er liefert einen ressortübergreifenden Überblick des Umsetzungsstands bestehender Maßnahmen und neuer Vorhaben innerhalb des Berichtszeitraums seit Anfang 2023 und berichtet auch über die Tätigkeiten der Landesfachstelle und ihrer Regionalstellen.

    Kinder- und Jugendministerin Josefine Paul: „Es ist elementar wichtig, dass wir uns ressortübergreifend und mit vereinten Kräften der Aufgabe der Prävention, Intervention und Hilfe im Bereich sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche widmen. Denn wirksamer Schutz gelingt nur in gemeinsamer Verantwortung. Unser oberstes Ziel ist und bleibt der bestmögliche Schutz unserer Kinder vor und in Fällen sexueller Gewalt. Der nunmehr dritte Umsetzungsbericht zeigt, dass wir uns diesem Ziel vollends verpflichtet fühlen und im Schulterschluss in einem starken Netzwerk mit allen beteiligten Akteurinnen und Akteuren weiter verfolgen.”

    Der dritte Umsetzungsbericht kann auf der Website des MKJFGFI eingesehen werden. Die ganze Pressemeldung gibt es hier. 

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    Grundkurs „Interdisziplinäre Kooperation im Kinderschutz“ (IKIK)


    Der Grundkurs „Interdisziplinäre Kooperation im Kinderschutz“ (IKIK) ist ein Angebot des Kompetenzzentrums Kinderschutz NRW. Er richtet sich an alle Fachkräfte der unterschiedlichen am Kinderschutz beteiligten Berufsgruppen / Organisationen, die in NRW mit Kinderschutzaufgaben betraut sind. Somit gehören öffentliche und freie Jugendhilfe,  Justiz,  Polizei, Schule sowie Kindertagesstätten und Kindertagespflege u.v.m. zu den Zielgruppen.

    Ziele des Kurses „Interdisziplinäre Kooperation im Kinderschutz“ sind:

    • Voraussetzung schaffen für gelingende interdisziplinäre Kooperation zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor (weiterer) Gewalt
    • sensibilisieren für die Perspektive von Kindern und Jugendlichen im interdisziplinären Kinderschutz
    • Überblick und Transparenz geben über Rollen, Aufgaben und Erwartungen der vielfältigen beteiligten Berufsfelder
    • Rechtliche Rahmenbedingungen und datenschutzrechtliche Vorgaben im interdisziplinären Kinderschutz verstehen lernen

    Der Kurs besteht aus vier Modulen mit jeweils vier Unterrichtsstunden (= drei Zeitstunden). Die Module bauen aufeinander auf und können nur als Ganzes gebucht werden. Der Kurs kann auch inhouse gebucht werden, z. B. von einem kommunalen Netzwerk Kinderschutz. Die Teilnehmerschaft sollte sich aus möglichst unterschiedlichen Professionen zusammensetzen.

    Hier finden Sie alle Infos zum Thema.

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    Rehabilitationsverfahren im Rechte- und Schutzkonzept


    Unter vielen Fachkräften kursiert die Sorge, dass sie in der pädagogischen Praxis zu Unrecht mit Vorwürfen von (sexualisierter) Gewalt konfrontiert werden könnten. Das führt mitunter zu Verunsicherungen, insbesondere im Hinblick auf ein professionelles Verhältnis von Nähe und Distanz im pädagogischen Alltag. Fälle von tatsächlichen Falschbeschuldigungen kommen in der Praxis selten vor, aber die Angst davor bedarf einer Bearbeitung.

    Für Organisationen empfiehlt sich darum die Erarbeitung eines sogenannten Rehabilitationskonzepts zur Wiederherstellung der Reputation der fälschlich angeschuldigten Person und zu ihrer Reintegration in die Organisation und pädagogische Tätigkeit.

    Die mögliche Rehabilitation einer falsch beschuldigten Person ist Teil des gesamten organisationalen Aufarbeitungsprozesses, welcher sich an eine Fallbearbeitung anschließt.

    Wichtig: Ein abgeschlossenes Interventionsverfahren sowie eine transparente und fachlich angemessene Abklärung des Verdachts sind für den Start eines Rehabilitationsprozesses unerlässliche Voraussetzungen. Es findet lediglich Anwendung, wenn im Rahmen des Interventions- und Klärungsprozesses nachgewiesen werden kann, dass sich der Verdacht gegenüber dem*der angeschuldigten Mitarbeiter*in zweifelsfrei als unbegründet herausgestellt hat.

    Der Rehabilitationsprozess mit unterschiedlichen Akteur*innen der Organisation

    Fälle sexualisierter Gewalt sind individuell und bedürfen daher auch einer individuellen Bearbeitung. Die im Folgenden skizzierten Handlungsschritte sind darum nicht als Schema zu betrachten, welches in jedem Fall so berücksichtigt werden muss. Sie dienen vor allem der Orientierung und zeigen auf, welche Ebenen innerhalb des Rehabilitationsprozesses bezogen auf falsch beschuldigte Mitarbeiter*innen berücksichtigt werden müssen.

    Bei einem anstehenden Rehabilitationsverfahren übernimmt die Leitung die Koordination. Je nach Konstellation wird die Personalabteilung sowie die Mitarbeiter*innenvertretung hinzugezogen. Um Fachlichkeit zu gewährleisten, empfiehlt sich vor allem die Hinzunahme von externer Prozessbegleitung (z.B. Supervision).

    Der Rehabilitationsprozess mit der falsch beschuldigten Person

    Bezogen auf die falsch beschuldigte Person müssen zwei Aspekte bedacht werden: die (arbeitsrechtlichen) Formalia sowie die persönliche Aufarbeitung. Folgende Schritte können dabei relevant sein.

    (Arbeits-)Rechtliche Aspekte:

    • Sind (vorübergehende) arbeitsrechtliche Maßnahmen wie Freistellung, Suspendierung, Beurlaubung etc. erfolgt und können diese aufgehoben werden?
    • Existieren, bezogen auf den Fall, Einträge in der Personalakte und können diese gelöscht werden?
    • Sind bei der falsch beschuldigten Person Kosten entstanden, die durch Arbeitgeber*innen erstattet werden müssen (z.B. durch Straf- oder Arbeitsrechtsverfolgung)?
    • Bestehen Ansprüche auf Entschädigung oder Schadensersatz (z.B. durch Lohnausfall)?
    • Benötigt die falsch beschuldigte Person rechtlichen Beistand?

    Für Arbeitgeber*innen ist es an dieser Stelle empfehlenswert arbeitsrechtliche Beratung und Vertretung hinzuzuziehen.  

    Persönliche Aufarbeitung:

    Zwischen einem Anfangsverdacht und der zweifelsfreien Feststellung, dass der Verdacht unbegründet war, vergeht unter Umständen einige Zeit, in der die falsch angeschuldigte Person mitunter hohem psychischem Druck ausgesetzt ist. Insbesondere für Pädagog*innen ergeben sich neben den Fragen der zivil- und strafrechtlichen Verfolgung vor allem auch Zukunftssorgen, inwiefern sie ihren Beruf weiter ausüben können.

    Um die Person auf emotional-psychischer Ebene zu entlasten und um eine Wiederaufnahme der Tätigkeit zu ermöglichen, ist deshalb die Unterstützung durch Supervision oder psychologische Beratung zu empfehlen. Arbeitgeber*innen sollten auch an dieser Stelle prüfen, inwiefern sie Mitarbeiter*innen, ggf. auch finanziell, unterstützen können.

    • Welche psychischen Belastungen sind entstanden? Welche Entlastungsstrategien können gefunden werden?
    • Welche Sorgen/Ängste haben sich (in Bezug auf das Fortsetzen der Tätigkeit) entwickelt?
    • Welche Folgen hat der Vorfall für die pädagogische Tätigkeit insgesamt?
    • Wie geht die Person zukünftig in Nähe-Verhältnisse mit Kindern und Jugendlichen?

    Die Reintegration in die Organisation und pädagogische Tätigkeit ist das Ziel. Je nach Fall und Dynamik innerhalb der Organisation variiert die Wahrscheinlichkeit, dass dies überhaupt möglich oder gewünscht ist. Falls eine Wiedereingliederung (aufgrund unterschiedlicher Faktoren) nicht möglich ist, müssen Arbeitgeber*innen prüfen, inwiefern sie die falsch angeschuldigte Person anderweitig unterstützen (z.B. durch das Angebot eines Einrichtungswechsels, Unterstützung bei der Bewerbung etc.).

    Der Rehabilitationsprozess mit dem Team und den direkten Kolleg*innen

    Damit die Rehabilitation einer falsch beschuldigten Person gelingen kann, muss insbesondere die Ebene der direkten Kolleg*innen beziehungsweise des Gesamtteams mitgedacht werden.

    Die Leitfrage für das Team lautet: Was ist notwendig, damit zur falsch beschuldigten Person wieder Vertrauen hinsichtlich ihrer pädagogischen Professionalität gefasst werden kann? Das Team muss ausreichend Zeit und Raum einplanen, um daran zu arbeiten.

    Verbunden mit dem Verdachtsfall sexualisierter Gewalt sind im gesamten Team der Organisation ebenfalls Belastungen und Emotionen entstanden, die bearbeitet werden müssen. Das Risiko der Team-Spaltung ist in solch einem Fall sehr groß, da die Mitglieder in der Regel unterschiedliche Perspektiven sowohl auf den Fall selbst als auch auf die falsch angeschuldigte Person haben. 

    Es ist hilfreich, wenn die Leitung gegenüber dem Team den gesamten Fall noch einmal transparent rekonstruiert und chronologisch aufzeigt, durch welche Schritte und Maßnahmen zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass es sich um eine Falschbeschuldigung handelt.  Die professionelle Klärung von Verdachtsfällen und die transparente Weitergabe von Informationen zum Geschehen erhöht die Chance im Team, dass das Vertrauen in die pädagogische Professionalität der falsch beschuldigten Person wieder wachsen kann.

    Im Rahmen der weiteren Bearbeitung braucht es Raum für die Sorgen, Ängste, Wut oder andere Emotionen, die durch die Situation bei den einzelnen Mitarbeitenden entstanden sind. Externe Moderation sowie supervisorische Begleitung sind auch an dieser Stelle besonders empfehlenswert. Je nach Fall und Konstellation sind möglicherweise sogar mehrere Sitzungen notwendig, um dem Team den Raum zu geben, den es braucht.

    Die Rehabilitation einer falsch beschuldigten Person ist ein Prozess, der vor allem auf der kognitiv-emotionalen Ebene der Beteiligten stattfindet. Dabei kann zum Beispiel Folgendes erörtert werden:

    • Aus persönlicher Sicht: Was benötigt das Team, um Vertrauen herzustellen oder wiederaufzubauen?
    • Aus fachlicher Sicht: In welche Situationen könnte die zu Unrecht beschuldigte Person zukünftig kommen, in denen der Verdacht eine Rolle spielt? Wie kann das Team damit umgehen?
    • Wechsel der Perspektive: Was wünscht sich ein*e Mitarbeiter*in, die unbegründet in den Verdacht der Gewaltausübung geraten ist?
    • Welche Konsequenzen für die pädagogische Praxis zieht das Team aus diesem Fall? Muss das Rechte- und Schutzkonzept überarbeitet werden (z.B. durch die Erweiterung der geltenden Verhaltensleitlinien)?

    An dieser Stelle ist noch einmal zu prüfen, ob es einzelne Mitarbeiter*innen gibt, die gesonderte Gespräche benötigen (z. B. weil sie eine tragende Rolle bei der Intervention innehatten oder sie nachhaltig belastet sind). Dieses Angebot sollte ebenfalls aktiv durch die Leitung kommuniziert werden.

    Es ist abzuwägen, inwiefern die Erarbeitungen gemeinsam oder zunächst getrennt zwischen Team und falsch angeschuldigter Person erfolgen. Im weiteren Verlauf kann es hilfreich sein, wenn es gemeinsame Gespräche gibt, in denen z.B. gegenseitige Erwartungen formuliert sowie Vereinbarungen an und für die weitere Zusammenarbeit getroffen werden.

    Inwiefern eine Rehabilitation innerhalb der Gesamtorganisation notwendig ist, muss geprüft werden. Hierbei sind insbesondere die Persönlichkeitsrechte sowie der Datenschutz der falsch beschuldigten Person zu wahren.

    Der Rehabilitationsprozess auf Team-Ebene sowie die (fachliche) Aufarbeitung des Falls sind für den zukünftigen Umgang mit Verdachtsfällen von (sexualisierter) Gewalt sehr wichtig. Sollten Ängste bei Mitarbeitenden verbleiben, besteht das Risiko, dass sie anlässlich eines weiteren Verdachts aus Unsicherheit untätig bleiben.

    Der Rehabilitationsprozess mit Kindern und Jugendlichen

    Je nach Fall sind auch die Kinder und Jugendlichen der Einrichtung über den Fall informiert. Dabei kann ihr Informationsstand unterschiedlich konkret und umfangreich sein. In jedem Fall bekommen Kinder und Jugendliche mit, dass ein Klärungsprozess innerhalb der Einrichtung läuft, weil sie z.B. merken, dass die Erwachsenen in Aufregung sind oder dass ein*e Mitarbeiter*in nicht mehr da ist. Ist die Situation geklärt und der Verdacht zweifelsfrei ausgeräumt, müssen Maßnahmen der Rehabilitation auch auf dieser Ebene erfolgen. Diese können zum Beispiel (je nach Einrichtung und Handlungsfeld) verschiedene Gesprächsformate beinhalten:

    • Eine zielgruppengerechte Kommunikation: Über den Fall, unter Berücksichtigung des Alters- und Entwicklungsstandes der jungen Menschen sowie ihres Kenntnisstandes. Die Hinzunahme externer Beratung bezüglich der zu treffenden Wortwahl und der geteilten Inhalte empfiehlt sich hier.
    • Raum für Gedanken und Emotionen der Kinder und Jugendlichen schaffen: Gibt es Ängste, Sorgen oder Unsicherheiten in Bezug auf den Fall?
    • Wechsel der Perspektive: Wurden Kinder und Jugendliche schon einmal für etwas beschuldigt, das sie nicht getan haben? Was haben sie sich gewünscht, wie die anderen damit umgehen?
    • Gesprächsangebote machen: Die Erwachsenen machen Angebote zu Einzelgesprächen, um über Inhalte zu sprechen, die Kinder und Jugendliche nicht in der Gruppe teilen möchten.

    Der Umgang mit falsch beschuldigenden Personen

    An dieser Stelle muss grundsätzlich differenziert werden zwischen dem Umgang mit Erwachsenen/Fachkräften und dem Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die falsche Anschuldigungen tätigen.

    Fachkräfte

    Unbegründete Verdachtsmomente in Fällen von (sexualisierter) Gewalt kommen aus unterschiedlichen Gründen zu Stande, nicht nur durch bewusst falsche Anschuldigungen, wie es häufig  angenommen wird. Wenn ein falscher Verdacht entstanden ist, in dessen Rahmen zum Beispiel (im Rahmen des Interventionsprozesses) Kommunikation unzureichend gewesen ist oder Schritte zur Klärung nicht eingehalten wurden, ist der Fall fachlich zu reflektieren und aufzuarbeiten.

    Hierbei steht die Frage im Vordergrund: Durch welche Umstände/Konstellationen ist es dazu gekommen, dass Mitarbeiter*in XY fälschlich im Verdacht stand, sexualisierte Gewalt ausgeübt zu haben?

    Wie bereits oben beschrieben, sind Maßnahmen im Rehabilitationsprozess bezogen auf das Team zu unternehmen. Im Besonderen ist dann noch einmal zu prüfen, inwiefern es Personen im Prozess gab, die maßgeblich am Zustandekommen der Falschanschuldigung beteiligt waren. Für den Rehabilitationsprozess ist es wichtig, dass sie in die Verantwortung genommen werden:

    • Welche Erklärung haben sie für das Zustandekommen der Falschbeschuldigung?
    • Muss die Übernahme von Verantwortung teamintern kommuniziert werden?
    • Muss eine Entschuldigung (auch schriftlich) erfolgen?
    • Ist weitergehend eine Mediation o.Ä. für die Zusammenarbeit zwischen falsch beschuldigender und falsch angeschuldigter Person erforderlich?

    Gleiches gilt für Personen, die bewusst falsche Anschuldigungen tätigen, um die andere Person zu schädigen. In diesem Fall sind darüber hinaus straf- und arbeitsrechtliche Maßnahmen möglich.

    Kinder und Jugendliche

    Auch Falschanschuldigungen unter Kindern und Jugendlichen können aus unterschiedlichen Gründen entstehen. Es ist daher zunächst zu erörtern, wie es zu den falschen Anschuldigungen gekommen ist. Je nach Alter und Entwicklungsstand muss der Fall mit ihnen aufgearbeitet werden und müssen sie ebenso in die Verantwortung genommen werden:

    • Welche Hintergründe hat die Falschanschuldigung/Gab es eine bestimmte Motivation?
    • Ist eine (schriftliche) Entschuldigung aus pädagogischer Sicht sinnvoll? Müssen sie dabei unterstützt werden?

    Für Kinder und Jugendliche, die Mitarbeitende falsch beschuldigen, besteht weiterhin grundsätzlich eine pädagogische Verpflichtung und je nach Fall muss erörtert werden, welche weiteren Maßnahmen erforderlich sind, damit eine pädagogisch angemessene Beziehungsgestaltung wieder möglich wird.

    Zusätzlich zu diesen Maßnahmen empfiehlt es sich, Kinder und Jugendliche, die falsche Beschuldigungen geäußert haben, an spezialisierte Fachberatungsstellen oder Kinder- und Jugendtherapeut*innen anzubinden. Es ist zum Beispiel möglich, dass diese Kinder/Jugendlichen (sexualisierte) Gewalt erlebt haben – nur eben nicht durch die Person, die sie beschuldigt haben. Daher ist dem Schritt der Aufklärung der Hintergründe/Motivation noch einmal besondere Sorgfalt zu zuzuschreiben.

     Je nach Fall muss geprüft werden, inwiefern Eltern und Sorgeverantwortliche im Rehabilitationsprozess berücksichtigt werden müssen. Das größtmögliche Maß an Transparenz zur Wiederherstellung von Vertrauen in die Organisation steht an dieser Stelle im Spannungsfeld mit Datenschutz und Persönlichkeitsrechten. Eine sorgsame Abwägung von geeigneten Maßnahmen ist auch auf dieser Ebene notwendig.

    Dokumentation und weitere Aufarbeitung

    Für den gesamten Rehabilitationsprozess ist eine umfassende Dokumentation durchzuführen, welche an die des Interventionsverfahrens anschließt. So sollten zum Beispiel getroffene Entscheidungen, Ergebnisse der Gesprächsrunden (insbesondere Vereinbarungen und Erwartungen für die zukünftige Zusammenarbeit) und Ideen für Veränderungen chronologisch erfasst werden.

    Für Organisationen besteht unter Umständen Bedarf nach weiteren Maßnahmen nach innen und außen. Zum Beispiel kann es notwendig sein, dass eine Rehabilitation der Einrichtung oder Gesamtorganisation in der Öffentlichkeit notwendig ist. Hierfür sind weitere Schritte, insbesondere der Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation, im Rahmen des Aufarbeitungsprozesses notwendig. Intern liefern sowohl das Interventions- als auch ein nachfolgendes Rehabilitationsverfahren möglicherweise nochmal wichtige Erkenntnisse in Bezug auf das Rechte- und Schutzkonzept. An welchen Stellen haben Strukturen nicht ineinandergegriffen oder waren diese für den Klärungsprozess hinderlich? Haben Arbeitsweisen, Konzepte oder Regelungen den Falschverdacht begünstigt? Somit können die Prozesse auch genutzt werden, um gegebenenfalls das Rechte- und Schutzkonzept anzupassen.

    Das Rehabilitationsverfahren im Rechte- und Schutzkonzept 

    Eine umfassende und am Betroffenenwohl orientierte Bearbeitung der Vorfälle von sexualisierter Gewalt ist auf organisationale Kapazitäten angewiesen. Im Rahmen von Intervention empfiehlt es sich einen Leitfaden zu erstellen, der festlegt, wie diese Kapazitäten (im Sinne der Fallbearbeitung) bestmöglich eingesetzt werden (siehe auch den Baustein „Intervention“). Insofern hat der Interventionsplan präventiven Charakter, weil er eine Organisation auf eine mögliche Krisensituation vorbereitet und den Beteiligten Handlungssicherheit geben kann.

    Gleiches gilt für die Festschreibung eines möglichen Rehabilitationsverfahrens im Rechte- und Schutzkonzept, auch wenn das Gelingen eines solchen Rehabilitationsprozesses nicht garantiert werden kann. Es wird sichergestellt, dass Ressourcen eingeplant werden, um sowohl die institutionelle Wiedereingliederung als auch die Wiederherstellung der Reputation einer Person zu ermöglichen, deren Falschbeschuldigung im Rahmen der Verdachtsabklärung zweifelsfrei festgestellt werden konnte.

    An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass es sich bei Verdachtsmomenten immer um individuelle Fälle handelt, die im Vorfeld schematisch nicht festgeschrieben werden können. Im Rechte- und Schutzkonzepte ist es daher auch nicht sinnvoll, einen umfassenden Rehabilitationsprozess unter Einbezug aller Ebenen zu beschreiben. Entscheidend ist in erster Linie die konzeptionelle Sicherstellung des Ressourceneinsatzes, die ein fachgerechter Rehabilitationsprozess benötigt.

    Die Festschreibung eines solchen Rehabilitationsprozesses vermittelt die Sicherheit gegenüber Mitarbeitenden, dass die Organisation Verdächtigungen, die sich als fälschlich herausgestellt haben, ernst nimmt und im Sinne der Fürsorgepflicht weiterbearbeitet. Dadurch kann ein solches Verfahren dazu beitragen, dass Widerstände gegenüber dem Schutzprozess insgesamt abgebaut werden. Daher ist die breite Informationsweitergabe in die Organisation empfehlenswert und kann zum Beispiel bereits bei Neueinstellung thematisiert werden oder im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung vorgestellt werden.

    Andererseits, und das ist im Sinne des Kinderschutzes nochmal besonders hervorzuheben, hat ein Rehabilitationsverfahren auch eine Signalwirkung auf Kinder und Jugendliche. Durch personenunabhängige und standardisierte Interventionsverfahren erleben Kinder und Jugendliche, dass Verdachtsmomente und Anschuldigungen von den Erwachsenen unvoreingenommen bearbeitet werden. Wenn sich darauffolgend ein Verdacht als unbegründet herausstellt und ein Rehabilitationsverfahren folgt, in dem die Perspektive von jungen Menschen weiterhin eine Rolle spielt, stellt dies nicht nur eine Wirksamkeitserfahrung dar. Es vermittelt Kindern und Jugendlichen gleichsam, dass auch unbegründete Fälle sexualisierter Gewalt nicht „unter den Teppich gekehrt“, sondern sorgfältig aufgearbeitet werden. Somit können auch Rehabilitationsverfahren dazu beitragen, dass eine Organisation zu einem verlässlichen und sicheren Ort für Kinder und Jugendliche wird. 

    Hinweis

    In der Praxis zeigen sich häufig Verdachtsfälle sexualisierter Gewalt, die sich nicht restlos aufklären lassen. In derartigen Fallkonstellationen ist die Einleitung eines Rehabilitationsverfahren nicht gegeben, da, die zweifelsfreie Ausräumung eines Verdachtes die notwendige Voraussetzung dafür ist. Verantwortliche müssen in solchen Fällen Überlegungen anstellen, wie es in dieser Situation weitergehen kann. Auch wenn gegenüber Mitarbeiter*innen unter Verdacht weiterhin Pflichten des Arbeitgebers bestehen, bleibt ebenso die Schutzverantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen bestehen. Der Schutz von jungen Menschen hat dabei immer Priorität. Zu diesem Thema empfehlen wir folgende Publikation, zum kostenlosen Download erhältlich: Kavemann, Barbara, Rothkegel, Sibylle, Nagel, Bianca: Nicht aufklärbare Verdachtsfälle bei sexuellen Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt durch Mitarbeiter*innen in Institutionen. Nicht 100 Prozent Sicherheit, aber 100 Prozent Professionalität, Berlin 2015, 81 Seiten.

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