Qualität von Rechte- und Schutzkonzepten
Rechte- und Schutzkonzepte haben das Ziel, Kinder und Jugendliche in den pädagogischen Einrichtungen zu stärken und zu schützen, Täter*innen abzuschrecken sowie Erwachsene ansprechbar und handlungsfähig im Falle von Gewalterfahrungen der jungen Menschen zu machen. Allerdings stellen sich dabei wichtige Fragen: Wie lässt sich nachvollziehen, ob diese Ziele mit den ergriffenen Maßnahmen auch erreicht werden? Und wie kann festgestellt werden, ob das Rechte- und Schutzkonzept wirksam ist?
Individuelle und einrichtungsbezogene Rechte- und Schutzkonzepte
Rechte- und Schutzkonzepte müssen individuell an die jeweilige Einrichtung und den Träger angepasst werden. Jede pädagogische Einrichtung bringt eigene Rahmenbedingungen, Risikofaktoren und Ressourcen mit sich, weshalb standardisierte Konzepte nicht ausreichen. Es gilt, Lösungen zu entwickeln, die auf die spezifischen Anforderungen der Einrichtung zugeschnitten sind. Dabei darf es jedoch nicht zu einem Qualitätsgefälle zwischen den verschiedenen Einrichtungen kommen. Um dies zu vermeiden, müssen empirische Kriterien für die Qualität von Schutzkonzepten entwickelt und Mindeststandards formuliert werden. Aktuell gibt es noch keine einheitlichen fachlichen Standards für alle Handlungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe, jedoch andere Forschungsstände, aus denen Gelingensfaktoren abgeleitet werden können.
Im Landeskinderschutzgesetz NRW ist in §11 (6) vorgesehen, dass die oberste Landesjugendbehörde, sprich das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen (MKJFGFI), mit den kommunalen Spitzenverbänden, den Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege, den Kirchen und den Verbänden der Träger unter Beteiligung der Landesjugendämter Vereinbarungen über die Qualitätssicherung und -entwicklung für Kinderschutzkonzepte treffen soll.
Forschungsstand und Erkenntnisse aus Monitoring und Evaluation
Der Forschungsstand zu Schutzkonzepten ist noch vergleichsweise gering, aber prinzipiell vorhanden. Monitoringstudien, wie das gemeinsame Monitoring des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) von 2019, liefern wichtige Einblicke in den Umsetzungsstand von Schutzkonzepten. Diese Studien zeigen, dass sich im Vergleich zu früheren Untersuchungen ein erkennbarer Fortschritt abzeichnet. Über 50 % der befragten Einrichtungen verfügen mittlerweile über Fragmente von Schutzkonzepten, doch nur wenige können bereits ein vollständiges Konzept vorweisen. Hier zeigt sich ein erheblicher Entwicklungsbedarf.
Ein Großteil der Einrichtungen (80 %) arbeitet bereits mit Krisenleitfäden, doch auch hier gibt es große inhaltliche Unterschiede. So fokussieren die Krisenleitfäden in stationären Einrichtungen oft Verdachtsfälle von Gewalt, während Kindertageseinrichtungen sich stärker an den Vorgaben des §8a SGB VIII (Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung) orientieren. Dies verdeutlicht, dass die Inhalte der Konzepte je nach Einrichtung stark variieren und weiterentwickelt werden müssen.
Ein weiteres zentrales Ergebnis des Monitorings des DJI zeigt, dass die Thematik des Kinderschutzes in Bewerbungsverfahren zunehmend eine Rolle spielt. Dies ist ein wichtiger Schritt, um bei Fachkräften das Bewusstsein für Kinderschutz bereits bei der Einstellung zu schärfen. Geregelte Beschwerdeverfahren und klare Ansprechstrukturen sind jedoch in den verschiedenen Einrichtungen noch ungleich verteilt. In stationären Einrichtungen sind solche Verfahren häufig etabliert, während Kindertageseinrichtungen hier noch erheblichen Nachholbedarf aufweisen.
Aktuell läuft eine erneute Erhebung des DJI, welche den Umsetzungsstand von Schutzkonzepten an Schulen erhebt. Die Ergebnisse werden noch Ende 2024 erwartet.
Problematik der Wirksamkeitsmessung
Ein zentrales Problem bleibt die Frage, wie die Wirksamkeit von Schutzkonzepten gemessen werden kann. Dahingehend gibt es bislang kaum systematische Forschung. Die Frage nach der Wirksamkeit lässt sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten: Gilt ein Schutzkonzept als wirksam, wenn keine sexualisierten Gewaltdynamiken in der Einrichtung entstehen? Oder kann die Wirksamkeit auch darin bestehen, dass Gewaltdynamiken, sobald sie auftreten, schnell von den Betroffenen offengelegt werden und eine adäquate Reaktion erfolgt? Es ist klar, dass die Messung von Wirksamkeit in diesem Bereich äußerst komplex ist und viele Faktoren berücksichtigt werden müssen.
Das Verbundprojekt „SchutzNorm“ der Fachhochschule Kiel, der Universitäten Hildesheim und Kassel sowie der Hochschule Landshut hat Qualitätsstandards für Schutzkonzepte im Handlungsfeld der Kinder- und Jugendarbeit entwickelt. Dieses Projekt wurde im Rahmen der Förderlinie „Forschung zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Es stellt eine wichtige Grundlage für zukünftige Forschung und die Entwicklung von handlungsfeldübergreifenden Standards dar, die es ermöglichen, die Qualität von Schutzkonzepten besser zu verstehen und zu bewerten.
Aus diesem Projekt, aus den unterschiedlichen Monitorings und auch aus verschiedenen Ausarbeitungsstudien können Gelingensfaktoren für die Etablierung und Umsetzung von Rechte- und Schutzkonzepten abgeleitet werden.
Konzeptqualität: Inhaltliche Anforderungen an Rechte- und Schutzkonzepte
Um die Qualität eines Rechte- und Schutzkonzepts zu bewerten, ist es wichtig, die inhaltlichen Anforderungen zu definieren. Ein zentrales Merkmal von Schutzkonzepten ist, dass sie auf den jeweiligen Träger und die spezifische Einrichtung zugeschnitten sein müssen. Eine pauschale Lösung gibt es dabei nicht, denn die Besonderheiten des jeweiligen Handlungsfeldes sowie die spezifischen Bedingungen der jeweiligen Einrichtung müssen immer berücksichtigt werden.
Die Grundlage für die Entwicklung eines Rechte- und Schutzkonzepts bildet eine umfassende Risiko- und Potentialanalyse. Dabei werden Gefährdungen und Schutzmöglichkeiten innerhalb der Einrichtung systematisch erfasst und bewertet. Ein zentraler Bestandteil des Konzepts ist auch die Auseinandersetzung mit institutioneller und pädagogischer Macht sowie deren potentieller missbräuchlicher Verwendung. Häufig wird das Thema Gewalt als „weit entfernt“ betrachtet, doch die Forschung und die Praxiserfahrung zeigen, dass es in jeder Einrichtung zu entsprechenden Vorfällen kommen kann. Dazu braucht es umfassende Sensibilisierung der pädagogischen Fachkräfte im Themenfeld.
Ein gutes Rechte- und Schutzkonzept umfasst Maßnahmen auf drei Ebenen:
- primäre Prävention (Vorbeugung),
- sekundäre Prävention (Intervention bei konkreten Gefährdungen)
- und tertiäre Prävention (Aufarbeitung und Nachsorge nach Vorfällen).
Darüber hinaus müssen klare Zuständigkeiten für einzelne Personen aus der Leitungsebene und dem Mitarbeiter*innen-Team festgelegt und ihre Kompetenzen definiert werden. Ein weiteres zentrales Element ist die Berücksichtigung des Spannungsfelds zwischen dem Schutz vor sexualisierter Gewalt und der Schaffung von Möglichkeiten für sexuelle Bildung. Hier ist eine differenzierte und sensible Herangehensweise erforderlich.
Sexualität ist ein Teil der Identität und sexuelle Bildung spielt eine zentrale Rolle für die Entwicklung eines gesunden und selbstbestimmten Umgangs damit. Wissen über körperliche, emotionale und soziale Aspekte von Sexualität zu vermitteln, Fragen zu klären und ein respektvolles Miteinander zu fördern, trägt zur Prävention sexualisierter Gewalt bei.
Die Einrichtung selbst sollte schließlich zu einem „Kompetenzort“ werden, wie es auch von der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) gefordert wird. Dies bedeutet, dass Fort- und Weiterbildungsangebote sowie die Vermittlung von Fachwissen und Handlungswissen eine zentrale Rolle spielen müssen, um Fachkräften Handlungssicherheit bei beobachteten und gemeldeten Fällen von sexualisierter Gewalt zu geben.
Die Qualitätsstandards des Projekts „SchutzNorm“ setzen auf eine systematische und umfassende Schutzstrategie. Sie umfassen sowohl präventive Maßnahmen als auch klare Strukturen für den Umgang mit Gefährdungen und Verdachtsfällen. Zentrales Ziel ist es, eine Schutzkultur zu etablieren, die dauerhaft im Arbeitsalltag verankert ist und durch regelmäßige Schulungen, Evaluationen und die aktive Beteiligung der Kinder und Jugendlichen stetig weiterentwickelt wird.
- Schutzkultur: Schutz muss als kontinuierlicher Prozess in der Organisation verankert sein, unterstützt durch regelmäßige Schulungen und Sensibilisierungen.
- Prävention: Regelmäßige Risikoeinschätzungen und Verhaltenskodizes helfen, spezifische Risiken zu identifizieren und gezielt entgegenzuwirken.
- Strukturen und Zuständigkeiten: Klare Verantwortlichkeiten und der Einsatz von Schutzbeauftragten sind essenziell. Externe Unterstützung kann zur Qualitätssicherung beitragen.
- Partizipation: Kinder und Jugendliche werden in die Entwicklung der Schutzkonzepte einbezogen. Leicht zugängliche Beschwerdewege sind unerlässlich.
- Schulung der Mitarbeitenden: Regelmäßige Schulungen und die Reflexion der eigenen Rolle tragen zur Handlungssicherheit bei.
- Intervention: Klare Handlungsleitfäden bei Verdachtsfällen sowie die Zusammenarbeit mit externen Fachkräften sichern professionelles Handeln.
- Evaluation und Weiterentwicklung: Regelmäßige Überprüfungen und Anpassungen der Schutzkonzepte stellen deren Wirksamkeit sicher.
- Transparenz: Schutzkonzepte sollten öffentlich kommuniziert und Eltern umfassend informiert werden.
Prozessqualität: Der Weg zum Rechte- und Schutzkonzept
Die Entwicklung eines Rechte- und Schutzkonzepts ist ein dynamischer Prozess, der sich an den Ressourcen und Kapazitäten der Organisation orientiert. Er sollte nicht an starren Fristen oder Terminen ausgerichtet sein, sondern flexibel und kontinuierlich weiterentwickelt werden. Zu Beginn stehen die Motivation zur Veränderung und der Wunsch, ein Verständnis für den Schutz in der eigenen Einrichtung zu entwickeln. Auf dieser Grundlage wird eine „Veränderungsarchitektur“ entworfen, die den Prozess strukturiert.
Eine Steuerungsgruppe übernimmt die Koordination des Erstellungsprozesses, während die Leitungsebene die übergeordnete Verantwortung für die Prozesssteuerung und die Einbindung aller relevanten Akteur*innen trägt. Ein entscheidendes Element ist die Beteiligung aller Akteur*innen innerhalb der Organisation – von den Mitarbeitenden bis zu den Kindern und Jugendlichen, die als „Expert*innen ihrer Lebensrealität“ eine besonders wichtige Rolle spielen. Durch ihre Einbeziehung wird sichergestellt, dass das Rechte- und Schutzkonzept praxisnah und kind- bzw. jugendgerecht entwickelt wird.
Hier kann ein Spannungsfeld zwischen „top down“- und „bottom up“-Ansätzen entstehen. Während der Rahmen des Rechte- und Schutzkonzepts von der Leitungsebene vorgegeben wird, müssen gleichzeitig die Erfahrungen und Perspektiven der Mitarbeitenden sowie der Kinder und Jugendlichen in die Entwicklung des Konzepts einfließen. Nur so kann eine ausgewogene und praxisnahe Umsetzung gewährleistet werden.
Im Laufe des Prozesses werden sogenannte „parallele Lernsysteme“ genutzt, z. B. Beiräte, Arbeitskreise oder Workshops. Diese fördern den Austausch zwischen den verschiedenen Akteur*innen und tragen zur Weiterentwicklung des Konzepts bei. Externe Expertise wird hinzugezogen, um den Prozess zu begleiten und sicherzustellen, dass alle relevanten fachlichen Aspekte berücksichtigt werden.
Reflexion und Evaluation
Prozessreflexion und regelmäßige Evaluationstermine sind wichtige Bestandteile der Entwicklung eines Rechte- und Schutzkonzepts. Sie ermöglichen es der Organisation, sich als „lernende Organisation“ weiterzuentwickeln und das Schutzkonzept kontinuierlich zu verbessern. So kann sichergestellt werden, dass das Konzept nicht statisch bleibt, sondern flexibel auf neue Herausforderungen und Entwicklungen reagiert.
Fazit: Ein kontinuierlicher Entwicklungsprozess
Insgesamt zeigt sich, dass die Entwicklung von Rechte- und Schutzkonzepten ein langfristiger und kontinuierlicher Prozess ist, der sowohl inhaltliche als auch prozessuale Anforderungen erfüllen muss. Die individuellen Gegebenheiten jeder Einrichtung müssen berücksichtigt werden, ohne dabei die Qualität aus den Augen zu verlieren. Eine umfassende Risikoanalyse, klare Zuständigkeiten, die Beteiligung aller Akteur*innen sowie eine stetige Reflexion und Evaluation sind entscheidende Faktoren für den Erfolg eines Rechte- und Schutzkonzepts. Der Forschungsbedarf, insbesondere im Hinblick auf die Messbarkeit der Wirksamkeit, bleibt jedoch hoch.
Allroggen, M. et. al. 2018: Umgang mit sexueller Gewalt in Einrichtungen für Kinder und Jugendliche. Göttingen: Hogrefe.
Bayrischer Jugendring 2021: Schutzkonzepte in der Jugendarbeit. München.
Eberhardt, B., Naasner, A. & Nitsch, M. 2016: Handlungsempfehlungen zur Implementierung von Schutzkonzepten in Einrichtungen der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe. Düsseldorf.
Fegert, J. et. al. 2018: Schutz vor sexueller Gewalt und Übergriffen in Institutionen. Berlin: Springer.
Henningsen, A. et. al. 2021: Verbundprojekt SchutzNorm. Qualitätsstandards für Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendarbeit. Kiel, Hildesheim, Kassel, Landshut.
Kappler, S. et. al. 2019: Kinder und Jugendliche besser beschützen – der Anfang ist gemacht. Berlin.
Oppermann, C. 2018: Lehrbuch Schutzkonzepte in pädagogischen Organisationen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.
Wolff, M. et. al. 2017: Schutzkonzepte in Theorie und Praxis. Weinheim, Basel: Beltz Juventa.