Wissen zu sexualisierter Gewalt
Überall da, wo Menschen miteinander in Beziehung treten, können Grenzverletzungen bzw. Formen sexualisierter Gewalt durch Erwachsene wie auch Kinder und Jugendliche vorkommen. Es ist entscheidend, damit bewusst, transparent und reflektiert umzugehen, um solche Fälle zu minimieren oder zu verhindern. Der folgende Text behandelt das Thema der sexualisierten Gewalt an Mädchen* und Jungen* durch Erwachsene ebenso wie die damit zusammenhängenden Fragen: Wer sind die Täter*innen sexualisierter Gewalt, und welche Gefährdungsrisiken gibt es für Mädchen* und Jungen*?
Fachliche Differenzierung (in Anlehnung an Enders/Kossatz 2012)
A. Grenzverletzungen sind Verhaltensweisen, die die persönlichen Grenzen anderer Personen, ihre Gefühle und ihr Schamempfinden überschreiten. Sie entstehen spontan und haben nicht das Ziel Grenzen zu verletzen. Daher resultieren Grenzverletzungen in der Regel aus mangelndem Bewusstsein einer Person in der jeweiligen Situation. Jeder Mensch hat das Recht zu bestimmen, wie viel Nähe er zwischen sich und anderen zulassen möchte.
Die Faktoren für eine Grenzverletzung sind nicht immer objektiv zu fassen, sie hängen mit dem subjektiven Erleben jedes Einzelnen zusammen. Wichtig ist die Reflexion, Bewusst-Machung und ggf. Aufarbeitung/Thematisierung mit den beteiligten Personen, deren Grenzen verletzt wurden.
B. Sexualisierte Übergriffe unterscheiden sich von Grenzverletzungen durch die Massivität und Häufigkeit. Sie beschreiben vor allem nicht-zufällige körperliche Berührungen an intimen Körperstellen wie der (weiblichen) Brust, an Po oder Vulva/Penis oder die Bloßstellung intimer Körperstellen. Die Berührungen sind Teil des Verhaltensmusters von übergriffigen Personen und sind Ausdruck von fachlichen und persönlichen Defiziten. Sexualisierte Übergriffe können bereits Straftatbestände sein.
C. Sexualisierte Gewalt wird durch Erwachsene gegen Kinder und Jugendliche ausgeübt. Dazu zählen zum Beispiel (vaginale, anale, orale) Penetration, Masturbationshandlungen vor oder an Kindern und Jugendlichen sowie die Konfrontation mit pornografischen Inhalten. Die Täter*innen gehen bei der Ausübung ihrer Gewalthandlungen systematisch vor.
Insbesondere die hier aufgeführten Gewalthandlungen sind in Deutschland strafbar und werden im 13. Abschnitt des Strafgesetzbuches unter „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ benannt.
Die Übergänge zwischen Grenzverletzungen, Übergriffen und Gewalthandlungen sind fließend und in der Praxis nicht immer klar voneinander zu trennen. Auch nutzen Täter*innen zum Beispiel bewusst (vermeintlich zufällige) Grenzverletzungen gegenüber Kindern und Jugendlichen, um ihre sexualisierten Gewalthandlungen vorzubereiten.
Alle aufgeführten Formen können für Betroffene körperliche und psychische Folgen nach sich ziehen. Insbesondere massive Übergriffe und sexualisierte Gewalthandlungen sind ein Risiko für die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Für die Prävention ist es daher wichtig alle Formen zu berücksichtigen, Kinder und Jugendliche, welche diese erleben ernst zu nehmen und bereits bei vermeintlich „geringfügigen Grenzverletzungen“ zu intervenieren.
Sexualisierte Gewalt ist ein Phänomen, das einer klaren Sprache bedarf, um es greif- und damit bearbeitbar zu machen. Dies beginnt mit dem Begriff selbst, der sich aus der Fachwelt heraus als Alternative zum strafrechtlich derzeit noch gebräuchlichen Begriff des „sexuellen Missbrauchs“ entwickelt hat. Im Unterschied zum Missbrauchsbegriff markiert „sexualisierte Gewalt“ den Subjektstatus von Kindern und Jugendlichen, die nicht wie Objekte sexuell miss- und damit indirekt auch legitim gebraucht werden können. Diese Perspektive entzieht Täter*innen eine Rechtfertigungsstrategie für ihre Taten und weist deutlich deren Verantwortung als Gewaltausübende aus. Im Gegensatz zum Begriff „sexueller Missbrauch“ beschreibt der Terminus „sexualisierte Gewalt“ den Machtmissbrauch, der im Fokus steht, und distanziert sich dadurch von der gesellschaftlich immer noch weit verbreiteten Annahme, es handele sich meist darum, dass (männliche) Erwachsene ihre Libido nicht kontrollieren könnten.
Inhaltlich ist als sexualisierte Gewalt „jede sexuelle Handlung [zu verstehen], die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann“ (Deegener 2010, S. 22).
Täter*innen
Aktuellen Studien zufolge sind Täter*innen zu ca. 75-90 % männlich und zu 10-25% weiblich. Dabei werden Taten in erster Linie von Menschen begangen, die keine bzw. keine ausschließliche sexuelle Präferenz für kindliche oder jugendliche Körperschemata haben. Studienergebnissen zufolge kommen über 90% aus dem nahen sozialen Umfeld oder aus der Familie der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Ebenso können Organisationen, in denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten, zu Tatorten werden.
Aus Fällen von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist bekannt, dass Täter*innen nicht aus dem Affekt handeln, sondern ihre Gewalthandlungen strategisch geplant und vorbereitet sind.
Sie gehen also nicht willkürlich vor, sondern setzen vor allem auf Manipulation des Umfeldes. Je nach Tatkontext vernebeln sie die Wahrnehmung der Erwachsenen (z.B. Familienmitglieder oder Fachkräfte), hebeln Regelungen aus und schaffen insgesamt einen Raum, in dem sexualisierte Gewalt unentdeckt möglich wird.
Bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen verschieben sie schrittweise die psychischen und körperlichen Grenzen und bringen sie in ein emotionales Abhängigkeitsverhältnis. Neben sexualisierten Gewalthandlungen üben die Täter*innen vor allem auch psychische Gewalt aus, um die Betroffenen unter Druck zu setzen oder ihnen Angst zu machen. So wollen sie letztlich verhindern, dass sich die Betroffenen Unterstützer*innen anvertrauen.
Zwar zeigt sich in der Praxis, dass dieses Vorgehen durch Täter*innen wirksam ist. Jedoch liefert es ebenfalls Anknüpfungspunkte für die Präventionsarbeit, um Täter*innen abzuschrecken und Betroffene zu unterstützen.
Betroffene Kinder und Jugendliche
Analog zu dem Mythos, dass ausschließlich Männer sexualisierte Gewalt ausüben, erweist sich auch die Vorstellung als unzutreffend, dass primär Mädchen* von dieser Gewaltform betroffen sind. Vielmehr stellt sich das Geschlechterverhältnis der Betroffenen ausgeglichener dar als das der Täter*innen. Betroffen sind zudem Jungen* und Mädchen* jeden Alters und Aussehens und jeder sozialen Schicht. Denn wen die Täter*innen auswählen, hängt nicht zuletzt maßgeblich von den individuellen Präferenzen und Gelegenheitsstrukturen ab.
Sexualisierte Gewalt ist ein Phänomen, das prinzipiell alle Menschen betreffen kann. Aber nicht alle Menschen sind gleich gefährdet. Besonders vulnerable Gruppen sind etwa Kinder und Jugendliche mit Behinderungen, queere Kinder und Jugendliche sowie junge Geflüchtete. Der Grund dafür ist, dass diese z.B. einer erhöhten Abhängigkeit unterliegen und auf Unterstützung anderer angewiesen sind. Das Risiko, betroffen zu sein, ist außerdem erhöht bei Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse und Gefühle angemessen auszudrücken. Auch werden diese Gruppen häufiger ausgegrenzt und diskriminiert und sind damit empfänglicher für die Manipulationsstrategien von Personen, die sexualisierte Gewalt ausüben möchten. Sie sind somit aufgrund ihrer besonderen Lebensumstände oder ihrer Identität vermehrt betroffen/gefährdet und haben oft weniger Zugang zu Schutzmechanismen. Es ist wichtig, das Bewusstsein für diesen Umstand zu schärfen und dies bei der Entwicklung von Schutzprozessen und der Gestaltung von Prävention zu berücksichtigen.
Betroffene Kinder und Jugendlichen erleben die sexualisierten Gewaltdynamiken als etwas Traumatisches und dies geht mit unterschiedlichen psychischen und körperlichen Symptomen der Belastung einher. Allerdings gibt es keine spezifischen Symptome und Anzeichen für sexualisierte Gewalt, und Unterstützer*innen (z.B. Familienmitglieder, Freund*innen oder Fachkräfte) erkennen Betroffene in ihrem Umfeld nicht immer auf Anhieb. Wenn Menschen einen Verdacht auf sexualisierte Gewalt in ihrem beruflichen oder privaten Umfeld haben, empfiehlt es sich eine spezialisierte Fachberatungsstelle zu kontaktieren und das weitere Vorgehen zu besprechen.
Quellen:
Deegener, Günther: Kindesmissbrauch. Erkennen – helfen – vorbeugen. 5. komplett überarb. Aufl., Weinheim & Basel 2010.
Enders, Ursula/Kossatz, Yücel: Grenzverletzung, sexueller Übergriff oder sexueller Missbrauch? In: Enders, Ursula: Grenzen achten: Schutz vor sexuellem Missbrauch in Institutionen. Ein Handbuch für die Praxis. 1. Aufl., Köln 2012, S. 30-53.