Im Mai 2022 ist das Landeskinderschutzgesetz in NRW in Kraft getreten. Dort ist in §11 Absatz 1 verankert, dass Schutzkonzepte in der Kinder- und Jugendhilfe gegen Formen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt sowie gegen Machtmissbrauch und weitere Formen von Kindeswohlgefährdung schützen sollen. Angesichts dieses umfangreichen Gewaltbegriffs im Gesetz stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Anknüpfungspunkten von Prävention, die ein Rechte- und Schutzkonzept leisten kann.
Jegliche Formen von Gewalt und Machtmissbrauch sind Risiken für das gesunde Aufwachsen von jungen Menschen. Das Erleben von Gewalt geht für Betroffene mit physischen und psychischen Belastungen einher, ist ein Risikofaktor für die Ausbildung von psychischen Krankheiten und steht der Wahrung von höchstpersönlichen Rechten der Kinder und Jugendlichen gegenüber. Der Schutz vor Gewalt und die Wahrung von höchstpersönlichen Rechten ist daher eine grundsätzliche Aufgabe von pädagogisch Tätigen.
Im Folgenden möchten wir darlegen, wie wir als Landesfachstelle mit dem umfangreichen Gewaltbegriff umgehen. Zum Zweiten möchten wir aber auch noch einmal begründen, warum wir es wichtig finden, Formen sexualisierter Gewalt hervorzuheben und spezifisch in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus erörtern wir, welche Möglichkeiten der Berücksichtigung wir im Schutzprozess sehen.
Warum ein Zusammendenken des Gewaltbegriffs notwendig ist
Fälle sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in der Praxis zeigen, dass Gewaltformen nicht getrennt voneinander auftreten, sondern ineinander übergehen. Täter*innen, die sexuelle Handlungen gegen Kinder und Jugendliche ausüben, wenden in ihrem strategischen Vorgehen vor allem psychische Gewalt an. Sie manipulieren die Betroffenen und setzen sie unter Druck, um zu verhindern, dass sich junge Menschen hilfesuchend an Unterstützer*innen wenden können. Auch Formen von körperlicher Gewaltanwendung können Teil der Täter*innen-Strategie sein, um Betroffene körperlich zu desensibilisieren und/oder zu bedrohen.
Erwachsene sind vor allem durch ihre körperliche, psychisch-emotionale und kognitive Überlegenheit in einer Machtposition gegenüber Kindern und Jugendlichen. Täter*innen setzen an diesem ungleichen Verhältnis an, sie nutzen ihre Machtposition, um sexualisierte Gewalt auszuüben. Wenn wir von Prävention sprechen und diese durch Schutzprozesse umsetzen, so wenden wir uns damit der körperlichen und psychischen Unversehrtheit zu und berücksichtigen insbesondere das Machtverhältnis zwischen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen.
Auch in anderen Konstellationen verlaufen die Grenzen zwischen den Formen von Gewalt fließend. Zwar ist es möglich, dass einzelne Formen von Gewalt ohne die Anwendung weiterer Formen ausgeübt werden. Zum Beispiel kann psychische Gewalt durch systematische Beleidung und Erniedrigung auftreten, ohne dass es zu weiteren Formen der Gewalt kommt. Für Rechte- und Schutzkonzepte sehen wir dabei den Bedarf, die Perspektive auf Gewaltformen im Schutzprozess zu erweitern (siehe übernächsten Abschnitt).
Warum wir es wichtig finden, sexualisierte Gewalt zu betonen
Der Grund, aus dem wir im Zusammenhang mit Rechte- und Schutzkonzepten noch einmal besonders auf sexualisierte Gewaltdynamiken hinweisen wollen, ergibt sich aus dem strategischen Vorgehen der Täter*innen. Ihre manipulativen Strategien setzen nicht nur bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen an, sondern zielen auf das Umfeld und die Struktur ab, in denen sich Täter*innen bewegen. Sukzessiv verändern sie Abläufe, passen Regelungen an und beeinflussen Team-Dynamiken, sodass die Gegebenheiten insgesamt begünstigend für das Ausüben von sexualisierter Gewalt sind. Diese Besonderheiten durch Täter*innen-Strategien lassen sich ausschließlich für sexualisierte Gewaltdynamiken identifizieren.
Für das Minimieren des Risikos von (sexualisierter) Gewalt in Organisationen durch ein Rechte- und Schutzkonzept ist es daher entscheidend, die Strategien der Täter*innen zu kennen und bei der Betrachtung der Bedingungen in der Organisation/Einrichtung gezielt in den Blick zu nehmen.
Im Schritt der Risiko- und Potentialanalyse werden mögliche Anknüpfungspunkte für Täter*innen-Strategien identifiziert, die somit Risikofaktoren für sexualisierte Gewaltdynamiken sind (> Risiko- und Potentialanalyse). Darauf aufbauend sollten dann Rechte- und Schutzkonzepte entwickelt werden, die eine achtsame und grenzwahrende Kultur in der Organisation etablieren und die Möglichkeitsräume für Täter*innen minimieren.
Warum eine differenzierte Betrachtung in den Bausteinen des Rechte- und Schutzkonzeptes sinnvoll ist
Schutzprozesse haben zum Ziel, Risiken von (sexualisierter) Gewalt zu minimieren und dementsprechend Organisationen zu möglichst sicheren Orten für Kinder und Jugendliche zu machen. Ein wesentlicher Kern ist wie bereits beschrieben die Risiko- und Potentialanalyse, bei der es darum geht, die Bedarfe und Ressourcen für Schutzbemühungen zu identifizieren. Je differenzierter, detaillierter und umfassender die Analyse durchgeführt wird, desto realistischer und praxisnäher werden die Ergebnisse.
Dementsprechend kann eine Risiko- und Potentialanalyse davon profitieren, wenn Gewaltausformungen differenziert in den Blick genommen werden, um offenzulegen, inwiefern sich verschiedene Formen der Gewalt in der Organisationpraxis etabliert haben.
Zum Beispiel lässt sich hier erörtern:
Unter anderem Fragestellungen wie diese erweitern den Blick auf die eigenen Strukturen und legen den Fokus darauf, inwieweit Verhaltens- und Umgangsweisen, Sprache und Kommunikation oder Regeln (auch ungeschriebene) gewaltvoll sind und einer Veränderung bedürfen. Insbesondere Erwachsene haben die Möglichkeit zu überprüfen, inwiefern verschiedene Formen der Gewalt (bewusst oder unbewusst) Teil des organisationalen Alltags sind.
In einem zweiten Schritt lassen sich auf Grundlage der Erkenntnisse, die in der Risiko- und Potentialanalyse gewonnen wurden, konkrete Bausteine für das Rechte- und Schutzkonzept entwickeln. Auch dabei ist es möglich, alle Formen von Gewalt und Machtmissbrauch mitzudenken. So lassen sich beispielsweise Verhaltenserwartungen bezüglich der Nicht-Anwendung verbaler/psychischer Gewalt explizit in Verhaltensleitlinien und -kodexe implementieren. Ebenso können die Themen Gewaltprävention oder Deeskalationstraining mit in den Fortbildungsplan aufgenommen werden. Ein weiteres Beispiel ist die Möglichkeit, das Interventionsverfahren zu erweitern und interne Handlungsabläufe festzulegen, wenn es beispielsweise zu körperlichen Auseinandersetzungen unter Jugendlichen in der Einrichtung kommt.
Siehe dazu auch die Handreichung „Thema Jugend Kompakt. Rechte- und Schutzkonzepte in der Jugendverbandsarbeit“ der Katholischen Landesarbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz NRW und des Bundes der Deutschen Katholischen Jugend.
Was ist überhaupt Gewalt? Diese Diskussion muss weitergehen
Sämtliche Formen von Gewalt sind ein Risiko für gesundes Aufwachsen junger Menschen. Rechte- und Schutzkonzepte haben zum Ziel, Einrichtungen zu möglichst sicheren Orten für Kinder und Jugendliche zu machen. Daher müssen alle Formen von Gewalt in der Praxis mitgedacht werden. Eine Subsumierung von sexualisierter Gewalt in einen „allgemeinen Gewaltbegriff“ geht mit dem Risiko einher, dass ebenjene Spezifika aus dem Sichtfeld geraten und somit innerhalb des Schutzprozesses unzureichend berücksichtigt werden.
Die Einordnung des Gewaltbegriffs und welche Handlungen als gewaltvoll gelten, ist historisch gewachsen und wurde (und wird auch heute) unterschiedlich bewertet. Schauen wir auf Gewalt als Phänomen, ist es elementar zu hinterfragen, was wir überhaupt als Gewalt definieren und welche Ausformungen wir mit einbeziehen. In diesem Zusammenhang können wir Formen der Gewalt auch nicht losgelöst von gesellschaftlichen Machtstrukturen denken. Kinder und Jugendliche sind keine einheitliche Gruppe und die Bedingungen für das Aufwachsen sind von der sozialen Position abhängig. Diskriminierungserfahrungen durch unter anderem Klassismus, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transfeindlichkeit oder Ableismus gehören dabei zur Lebensrealität von jungen Menschen und ergeben unterschiedliche Vulnerabilitäten.
Auch betreffen junge Menschen weitere Gewaltkonstellationen wie Zeug*innenschaft häuslicher Gewalt, Gewalt in der Partner*innenschaft, Stalking, Sextortion und Femizide, die ebenfalls zur Lebensrealität gehören (können) und die es zu berücksichtigen gilt.
Die Komplexität und Viel-Dimensionalität des Gewaltbegriffs sind eine Herausforderung für die Präventionsarbeit durch Rechte- und Schutzkonzepte. An dieser Stelle sei aber noch einmal das Ziel der achtsamen Organisationskultur hervorgehoben, die sich durch Konzepte etablieren soll. Eine Kultur der Grenzachtung, des Hinschauens, der Verantwortung und (selbst-)kritischen Auseinandersetzung mit Machtstrukturen erschwert eine Anknüpfung von jeglichen Gewaltdynamiken und begünstigt ein möglichst sicheres Aufwachsen von jungen Menschen.
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