Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt werden nicht nur durch Erwachsene an Kindern und Jugendlichen verübt, sondern auch durch andere Kinder und Jugendliche. Diese Konstellationen sind in den letzten Jahren insbesondere in Verbindung mit den Kontexten Schule und (soziale) Medien verstärkt in den Fokus von wissenschaftlicher und pädagogischer Praxis gerückt. Sie sind jedoch überall dort ein potenzielles Thema, wo Kinder und Jugendliche einander analog oder digital begegnen. Gerade im digitalen Raum ist es dabei nicht zwangsläufig der Fall, dass Kinder und Jugendliche in sozialen Beziehungen zueinander stehen.
Mehr zu Übergriffen im digitalen Raum finden Sie im entsprechenden Abschnitt.
Anlehnend an die Definition von sexualisierter Gewalt an Kindern durch Erwachsene von Deegener (2010) können sexualisierte Übergriffe durch Kinder als solche beschrieben werden, wenn das übergriffige Kind Handlungen erzwingt bzw. das betroffene Kind unfreiwillig in die Handlungen involviert wird oder diesen aufgrund von körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Zwischen dem übergriffigen und dem betroffenen Kind gibt es ein Machtgefälle, welches missbraucht wird. Dabei können Versprechungen sowie das Ausüben von verbaler, emotionaler und körperlicher Gewalt zum Tragen kommen.
Begrifflichkeiten
Grundsätzlich hat sich in Fachkreisen im Zusammenhang mit Kindern und Jugendlichen außerhalb des strafrechtlichen Kontextes die Rede von „grenzüberschreitenden/übergriffigen“ und „betroffenen“ Kindern bzw. Jugendlichen etabliert. Diese beugt durch den Verzicht auf die Label „Täter*in“ und „Opfer“ damit verbundenen Stigmatisierungen und Nicht-Beachtung von weiterhin vorhandenen Ressourcen vor. Gleichzeitig schafft sie Raum dafür, auch grenzüberschreitende bzw. gewaltausübende Kinder bzw. Jugendliche trotz Anerkennung der Folgen für Betroffene als hilfebedürftig zu begreifen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass – entgegen des verbreiteten Glaubens – die Ausübung sexualisierter Gewalt nicht zwangsläufig auf eigene Gewalterfahrungen hindeutet.
Häufigkeit
Das Deutsche Jugendinstitut e.V. (DJI) hat zwischen 2010 und 2011 im Auftrag des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) eine Studie in ausgewählten pädagogischen Organisationen durchgeführt, in der u.a. auch das Vorkommen von Übergriffen durch Kinder erfragt wurde: „Das Ausmaß, in dem die befragten Institutionen mit sexueller Gewalt von Kindern bzw. Jugendlichen an anderen Kindern und Jugendlichen konfrontiert waren, übersteigt den Verdacht auf Missbrauch durch Personal bei weitem. Jede sechste Schule, jedes vierte Internat und mehr als jedes dritte Heim hatte in den letzten drei Jahren mindestens einen solchen Verdachtsfall“ (Helming et al., 2011, S. 74). Die Polizeiliche Kriminalstatistik von 2024 verzeichnet bundesweit 1.498 Tatverdächtige unter 14 Jahren beim Straftatbestand sexueller Missbrauch an Kindern (§ 176-176e StGB), 2.431 tatverdächtige Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren und 4.782 junge Erwachsene zwischen 18 und 21 Jahren, wobei der Großteil der Tatverdächtigen männlich war (PKS, 2025).
In der 2016 an allgemeinbildenden Schulen in Hessen durchgeführten „SPEAK!“-Studie wurden 2.719 Schüler*innen zwischen 14 und 16 Jahren nach sexualisierten Gewalterfahrungen durch Gleichaltrige befragt. Über die Hälfte (48 %) der befragten Schüler*innen gab an Erfahrungen mit nicht-körperlicher sexualisierter Gewalt gemacht zu haben und fast ein Viertel (23 %) gab an, mindestens einmal im Leben von körperlicher sexualisierter Gewalt betroffen gewesen zu sein.
Ein besonderer Risikoort für Mädchen, nicht-körperliche sexualisierte Gewalt zu erleben, ist nach Maschke & Stecher der digitale Raum, bei Jungen hingegen das Klassenzimmer oder der Pausenhof. Bei körperlicher sexualisierter Gewalt stellen bei Mädchen im Vergleich zu Jungen „andere Wohnungen“, öffentliche Plätze und Bahnhöfe/Bushaltestellen Orte mit erhöhtem Risiko dar. Oftmals wurden die Taten von Mitschüler*innen, Freund*innen und (Ex-)Partner*innen verübt.
Im Fazit konnte herausgearbeitet werden, dass fast jede*r fünfte Jugendliche sowohl nicht-körperliche als auch körperliche sexualisierte Gewalterfahrungen gemacht hat (Maschke & Stecher, 2018, S. 6-33).
Die SPEAK-Studie wurde in den Jahren 2019-2021 durch eine Erweiterungsstudie „Sexualisierte Gewalt in der Erfahrung Jugendlicher an Berufsschulen“ ergänzt. Alle Informationen zu Haupt- und Erweiterungsstudie gibt es hier.
Grenzüberschreitungen als pädagogischer Handlungsanlass
Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt durch Kinder und Jugendliche stellen grundsätzlich einen pädagogischen Handlungsanlass dar, dem Fachkräfte und/oder Eltern zeitnah und zielgerichtet begegnen sollten. Die Maßgabe besteht darin, dass betroffene Kinder und Jugendliche bei der Bearbeitung ihrer Erfahrungen (professionell) unterstützt und grenzüberschreitende Kinder und Jugendliche zur Einsicht und Verhaltensänderung befähigt werden. Sexualpädagogische Ansätze helfen auch präventiv dabei, den Umgang mit eigenen und fremden Grenzen zu erlernen. Zudem stellen positive Bindungen zu Gleichaltrigen eine wichtige Ressource da, die es unter anderem Betroffenen erleichtert, sich mit ihren Gewalterfahrungen anzuvertrauen („Disclosure“), ehe diese ggf. mit Erwachsenen geteilt werden.
Mehr dazu in den Abschnitten zur Prävention, Intervention und Gesprächsführung.
Bundeskriminalamt (BKA) (Hrsg.) (2025): Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Tatverdächtige nach Geschlecht. https://www.bka.de/DE/AktuelleInformationen/StatistikenLagebilder/PolizeilicheKriminalstatistik/pks_node.html
Deegener, G. (2010): Kindesmissbrauch. Erkennen – helfen – vorbeugen (Komplett überarbeitete 5. Auflage). Beltz Verlag.
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI) (Hrsg.) (2011): Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. Abschlussbericht. Erstellt von Helmig, E./Kindler, H./Langmeyer, A./Mayer, M./Mosser, P./Entleitner, C./Schutter, S./Wolff, M. München.
Maschke, Sabine/Stecher, Ludwig: Sexuelle Gewalt: Erfahrungen Jugendlicher heute. Weinheim Basel 2018.
[3] https://beauftragte-missbrauch.de/themen/recht/strafrecht
[4] https://www.nrw-donumvitae.de/fileadmin/user_upload/pdf/Sex___Recht_-_Deutsch_-_Stand_28.11.2022-ansicht.pdf