Neben den vielen Annehmlichkeiten, die der digitale Raum insbesondere für junge Menschen als Ort von Unterhaltung, Austausch und Identitätsangeboten bereitstellt, besitzt er auch vielfältige Risiken. Die gewachsene Zahl von Fällen digitaler Gewalt durch Kinder und Jugendliche macht deutlich, dass Präventionsarbeit sich mit der heutigen hybriden Lebenswirklichkeit auseinandersetzen muss.
Eine geschlechtersensible, machtkritische Haltung kann helfen, einen grenzachtenden Umgang miteinander besprechbar zu machen, und so dazu beitragen, sexuellen Grenzverletzungen und Übergriffen vorzubeugen.
Intime Aufnahmen verschicken im gegenseitigen Einvernehmen
Der Begriff „Sexting“ setzt sich aus „Sex“ und dem englischen Wort „texting“ (eine Nachricht versenden) zusammen. Dabei geht es um Menschen, die sich nackt oder leicht bekleidet selbst fotografieren oder filmen und diese Bilder bzw. Videos verschicken, zumeist Erwachsene. Der Begriff „Sexting“ hat sich in der Fachwelt etabliert, ist aber allgemein nicht üblich. Es wird eher die Tätigkeit benannt: Sexy Aufnahmen, Selfies, Pics, Posingbilder oder Nudes verschicken.
Sexting unter Jugendlichen innerhalb einer intimen Beziehung ist nicht per se ein Problem: „Geschieht Sexting einvernehmlich, ist es Ausdruck von Nähe und Vertrauen, deutet auf einen positiven Zugang zur eigenen Körperlichkeit hin und stellt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität dar.“ (Döring 2014)[1]
Woran erkenne ich einen sexualisierten Übergriff?
Im Gegensatz zu einvernehmlichem Sexting handelt es sich um bildbasierte sexualisierte Gewalt, wenn intime Aufnahmen, die im Vertrauen erstellt und versendet wurden, ohne Zustimmung weiterverbreitet werden mit dem Ziel, eine Person bloßzustellen und zu entwerten („Sharegewalt“).
Eine weitere Form digitaler Übergriffe ist das Herstellen von nicht-einvernehmlichen, heimlichen Fotos, die den Blick z.B. unter den Rock einer Person ermöglichen („Upskirting“). Solche Fälle, bei denen sich Übergriffige und Betroffene zumeist kennen, ähneln in ihrer Dynamik dem Mobbing [2]. Mit neueren KI-basierten Anwendungen lassen sich darüber hinaus ohne technische Vorkenntnisse Fake-Nacktbilder („Deep Nudes“) erstellen. Bei ihrer Verbreitung können auch kommerzielle Interessen dahinterstehen.
Betroffenheit im Jugendalter ist häufig geschlechtsbezogen
Augenfällig ist, dass bei diesen Formen bildbasierter sexualisierter Gewalt und bei sexueller Belästigung überwiegend weibliche und queere Personen zur Zielscheibe werden.[3]
Die SPEAK-Studie (2021) ermittelte unter 1.118 Berufsschüler*innen zwischen 16 und 19 Jahren 1,9 Prozent Jungen* und 4,7 Prozent Mädchen*, deren intime Fotos gegen ihren Willen ins Internet gestellt wurden (S. 16). In dieser Altersgruppe gaben 59,7 Prozent der Mädchen* und demgegenüber 17 Prozent der Jungen* an im Internet sexuell „angemacht“ oder belästigt worden zu sein (S. 16).[4]
Mädchen* oder queere Menschen werden im Falle von erfahrender „Sharegewalt“ laut Partner-5-Studie (ebd.) mit „Fertigmachen“, „Bloßstellung“ oder der Abwertung weiblicher, sexueller Aktivität („Slutshaming“) konfrontiert.[5]
Hierbei erfahrene Scham- und Ohnmachtsgefühle werden von Betroffenen als traumatisch beschrieben. Sie fühlen sich schuldig, selbst wenn sie nicht beschuldigt werden. Die Scham ist umso größer, wenn sie in einem solchen Kontext mehrfach betroffen sind: Nicht nur durch den sexuellen Übergriff in digitaler Form und das „Veröffentlichtwerden“, sondern zusätzlich durch die Furcht vor anschließender „Rufschädigung“. Solchen Ansehensverlust haben männliche Personen seltener zu befürchten.[6]
Die Folgen von geschlechterstereotypen Rollenbildern
Geschlechterstereotype Rollenbilder und -erwartungen spielen eine zentrale Rolle: So genanntes „Victim Blaming“ (Selbst-Schuld-Haltung) oder die Verharmlosung von übergriffigem Verhalten („War doch nur Spaß“) ist durch alle Altersgruppen hinweg immer noch weit verbreitet.
Zugeschriebene Rollenerwartungen verstärken somit nicht nur Schuld, Scham und Ohnmachtsgefühle von Betroffenen, sondern verhindern Offenbarungen oder Hilfegesuche. Und letztlich stärken sie die Vormachtstellung von übergriffigen Jugendlichen. Im Interventionsfall ist es für Fachkräfte aus den genannten Gründen besonders wichtig, pädagogisch sensibel zu intervenieren.
Medienbildung und sexuelle Bildung gehören zusammen
Im Rahmen von Medienpädagogik oder sexueller Bildung ist es daher wichtig, den Umgang mit Sexualität im digitalen Raum proaktiv zum Thema zu machen und über schambehaftete Themen im geeigneten, altersangemessenen Rahmen zu sprechen.