Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen

Für Kinder und Jugendliche, die Grenzverletzungen oder sexualisierte Gewalt erfahren haben, ist es in der Regel nicht leicht darüber zu sprechen und sich Erwachsenen – wie z.B. Fachkräften – anzuvertrauen. Wenn sie es tun, ist das erst einmal ein gutes Zeichen, ein Vertrauensbeweis. Oft nehmen Betroffene dafür all ihren Mut zusammen: Sie teilen sich jemandem mit. Trotz Scham- und Schuldgefühlen, trotz der Angst vor Stigmatisierung und vor den Folgen ihrer Öffnung und trotz eventueller Drohungen und Schweigegebote.

Damit Kinder und Jugendliche sich anvertrauen können, brauchen sie Erwachsene, die gut informiert sind: über sexualisierte Gewalt allgemein, über Kinderrechte und Täter*innenstrategien sowie darüber, welche Hilfen und Maßnahmen ergriffen werden können und welche Unterstützungsangebote es vor Ort gibt.

Erziehungsverantwortliche sollten sich bewusst darüber sein, dass die Erfahrung sexualisierter Gewalt keine Ausnahme für Kinder und Jugendliche ist, sondern eine gesellschaftliche Realität. Sie gehört zu ihren Entwicklungsrisiken.

Wenn Fachkräfte über dieses Wissen verfügen, wird sich das in ihrer Haltung ausdrücken. Sie können sich stabiler und souveräner verhalten.

Erwachsene Betroffene, die in Kindheit und/oder Jugend sexualisierte Gewalt erfahren haben, formulieren deutlich, wie wichtig die Möglichkeit des Sich-Anvertrauens für sie ist und welche entscheidende Rolle die folgenden Reaktionen darauf spielen:

  • Ernst nehmen, keinen Zweifel äußern
  • Anerkennende Reaktion ohne Stigmatisierung
  • Stabilität der Fachkraft
  • Behutsame Gesprächsführung, keine Überforderung
  • Kenntnis über weitere Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten

Es sollte nicht vom Zufall abhängen, ob Kinder und Jugendliche sich anvertrauen und entsprechende Hilfen bekommen.

Wenn sich Kinder und Jugendliche anvertrauen

In jedem Fall gilt: Ruhe bewahren!

Folgende Punkte sollten berücksichtigt werden:

  • Möglichst eine ruhige, ungestörte Atmosphäre schaffen
  • Bestärken: „Gut, dass du es sagst“
  • Trösten und Versorgen der Betroffenen
  • Keine Infragestellung, Bagatellisierung, Ignorierung, Dramatisierung
  • Freundliche und zugewandte, aber neutrale Haltung: Große emotionale Betroffenheit wirkt nicht unterstützend. Stattdessen: Verständnis für die Gefühle der Betroffenen signalisieren
  • Eigene Gefühle wie Ängste und Unsicherheit sollten den Betroffenen gegenüber nicht gezeigt werden.
  • Aktives Zuhören: Deutlich machen, dass mit Interesse und gut zugehört wird
  • Offene, allgemeine Fragen stellen, B.: „Ist noch mehr passiert, möchtest du noch mehr erzählen?“
  • Keine suggestiven Fragen stellen, keine Beeinflussung
  • Keine „Warum“-Fragen, keine Unterbrechungen
  • Nicht drängen, nicht detailliert nachfragen, nicht „ermitteln“: Die Betroffenen entscheiden selbst, wieviel sie erzählen möchten.
  • Nicht in Geheimnisse einbinden lassen. Stattdessen behutsam erklären, dass es Dinge gibt, die nicht geheim gehalten werden können, wenn es um Schutz und Hilfe geht. Oft erleichtert es die Betroffenen, wenn sie verstehen, dass sie mit ihrem Geheimhaltungsdruck nicht mehr allein sind und sie Unterstützung erhalten. Gemeinsam kann dann überlegt werden, welche weiteren Schritte sich die Betroffenen vorstellen können.
  • Nichts versprechen, was nicht gehalten werden kann
  • Ansprechpartner*in bleiben
  • Über weitere geplante Schritte informieren, Betroffene in alle Schritte einbeziehen
  • Keine Vorwürfe, keine Kritik, keine Reduzierung auf das Betroffen-Sein
  • Ressourcen der Betroffenen im Blick behalten
  • Ressourcenorientiert und resilienzfördernd denken (versus: „Das ganze Leben des Mädchens* / Jungen* ist zerstört“)
  • Wut über potentielle Täter*innen zurückhalten
  • Sich nach dem Gespräch ggf. selbst Unterstützung holen

Es ist gut möglich, dass Schilderungen von Betroffenen zunächst „unlogisch“, unvollständig oder auch schwer nachvollziehbar erscheinen. Dabei ist zu bedenken, dass das Erlebte für Betroffene eine traumatische Erfahrung sein kann, durch die die Erinnerung unvollständig und zersplittert ist.

Wichtig ist es zudem auch anzuerkennen, wenn Betroffene (zunächst) schweigen oder nur ansatzweise schildern. Das „Sich Öffnen“ und das Sprechen sind als ein Prozess zu begreifen.

Wichtig zu wissen

Bei der Gesprächsführung sollte außerdem im Hinterkopf behalten werden, dass die betroffene Person sich im weiteren Verlauf zu einer Strafanzeige entschließen könnte. Die Aussage der Betroffenen ist dabei ein zentrales Beweismittel. Um die Glaubhaftigkeit der Aussage in einem etwaigen Strafverfahren nicht zu schmälern, ist besonders wichtig, dass die Aussage nicht durch suggestive oder zu spezifische Fragen beeinflusst wird. Die konkrete Ermittlung des Sachverhalts im Detail sollte durch die Ermittlungsbehörden erfolgen. Sind Fachkräfte sogenannte „Erstaussageempfänger*innen“, kann es vorkommen, dass sie als Zeug*innen vor Gericht geladen werden. Es empfiehlt sich daher eine bedachte und sorgfältige Dokumentation über Zustandekommen und Inhalt der Aussage.

Wichtig: Die Entscheidung über die Erstattung einer Strafanzeige sollte nie ohne Rücksprache mit dem betroffenen Kind bzw. der*dem betroffenen Jugendlichen getroffen werden. In jedem Fall sollte gut abgewogen werden, ob die*der Betroffene aktuell den Belastungen gewachsen ist, die ein Strafverfahren und die hiermit verbundene intensive Auseinandersetzung mit der Tat mit sich bringt. Vor einer Anzeige sollte daher immer auch eine spezialisierte Fachberatungsstelle und/oder ein Anwalt/eine Anwältin konsultiert werden.

Wenn Sie selbst als Fachkraft Übergriffe beobachten

In jedem Fall gilt: Ruhe bewahren!

Folgende Punkte sollten berücksichtigt werden:

  • Aktiv zum Schutz der Betroffenen eingreifen
  • Klare Positionierung: „Das war nicht ok, dass XY das gemacht hat.“
  • Trösten und Versorgen des/der Betroffenen
  • Keine Belastung der Betroffenen durch emotionale Reaktionen
  • Handlungen benennen und Stellung auch gegenüber übergriffigen Kindern/Jugendlichen beziehen: „Es ist nicht in Ordnung, dass du … gemacht hast.“ Dadurch wird die Wahrnehmung der Betroffenen gestärkt und die Handlungen werden nicht bagatellisiert.
  • Übergriffige Kinder/Jugendliche bekommen zunächst keine besondere Aufmerksamkeit.
  • Mit Blick auf die übergriffigen Kinder/Jugendlichen zwischen Verhalten und Person unterscheiden (Person nicht abwerten)
  • Keine Beschämung der Kinder und Jugendlichen durch moralische Bewertungen
  • Keine von Erwachsenen angeregten Entschuldigungen. Diese gehen häufig zu Lasten der Betroffenen.
  • Übergriffige Kinder und Jugendliche müssen die Gelegenheit bekommen Fehlverhalten einzusehen und zu korrigieren.

Gerade bei jüngeren Kindern entwickeln sich Grenzüberschreitungen häufig eher unabsichtlich im Rahmen von Rollen- oder Körpererkundungsspielen. Es ist wichtig, dass Fachkräfte den einzelnen Kindern und auch der Gruppe immer wieder deutlich vermitteln, welche Regeln es gibt und dass Grenzen beachtet und akzeptiert werden müssen.

Wenn es zu Vorfällen in Einrichtungen kommt, sind oft auch Kinder und Jugendliche beteiligt, die nicht direkt betroffen sind, aber die Situation beobachten („Innocent Bystanders“). Auch diese sollten Fachkräfte mit im Blick haben und ihnen Gesprächsangebote machen oder auch das Thema „Grenzverletzungen“ in der Gruppe thematisieren. Siehe dazu auch die Abschnitte zu Prävention und Intervention.

Unterstützung rund um das Thema „Gesprächsführung mit Kindern und Jugendlichen“ leisten z.B. spezialisierte Fachberatungsstellen. Sie können durch Beratung Handlungssicherheit vermitteln, gerade auch bei geplanten Gesprächen.

Weitergehende Sicherheit können Workshops bieten, in denen Gesprächssituationen unter fachlicher Begleitung z.B. in Rollenspielen geübt werden.

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